BK-Präventionsprobleme unseres „Dualen Arbeitsschutzsystems“

Kommentar zu den Berufskrankheiten(BK)-Todesfällen

Während seiner Amtszeit als „Berufskrankheiten“-Bundesminister vermeidet es Hubertus Heil (BMAS/SPD) wie schon seine Vorgänger im Amt (Scholz/SPD, Jung/CDU, Dr. med. (!) v. d. Leyen/CDU und Nahles/SPD) auch diesmal wieder, dem Jahresbericht über „Die gesetzliche Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2020“ (BMAS, 2022) einen kommentierenden Begleittext voranzustellen. Und das, obwohl er quasi als oberster Dienstherr für die BK-Prävention nach § 1SGB VII verantwortlich zeichnet.

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 Bild: freshidea/stock.adobe.com
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Sozialpolitische Ausgangslage

Wie an dieser Stelle im vergangenen Jahr (Müsch, AuA 7/21, S. 36 ff.) dargelegt, handelt es sich inhaltlich bei dieser „GUV“ (SGB VII) korrekterweise um eine Unternehmerhaftplicht-, Berufskrankheiten-, Arbeitswege- und Arbeits-Unfallversicherung, deren Träger als sog. Berufsgenossenschaften und Unfallkassen firmieren und sogar zu einer autonomen Rechtssetzung berechtigt sind. Während sie dabei mit ihren Unfall-Verhütungsvorschriften (UVV`en) durchaus erfolgreich sind, belegen aber die BK-Todesfallzahlen mindestens seit 2005 ein offensichtliches Präventionsversagen – nicht zuletzt wegen fehlender praktischer BK-Verhütungsvorschriften („BKVV“).

Im Sinne eines „Dualen Arbeitsschutzsystems“ steht daher hierzulande diesen „GUVersicherungs-“Trägern als zweite Säule die Staatliche Gewerbeaufsicht der Länder zur Gewährleistung bzw. Kontrolle des Vollzugs staatlicher Arbeitsschutz-Vorgaben gegenüber. Das kommt jedoch bei Gericht bzgl. der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK nicht zum Tragen, weil die beklagten Unfallversicherungsträger nach § 20 SGB X das Heft in der Hand haben und trotz Vollbeweisanforderung beim Tatbestandsmerkmal „Einwirkung“ Gegengutachten eines unabhängigen Gewerbeaufsichtsbeamten nicht vorkommen.

Und bezogen auf die BK-Problematik sei ferner an dieser Stelle auch einmal die öffentlich kaum diskutierte Rolle der im BK-Verfahren wenig in Erscheinung tretenden Vertreter des Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), nämlich die Betriebsärzte und Sicherheitsingenieure sowie die Staatlichen (Landes-) Gewerbeärzte und Staatlichen Gewerbeaufsichtsbeamten angesprochen.

Während beim BK-Tatbestandsmerkmal „Einwirkung“ bei anerkannten Berufskrankheiten der theoretische Schuldanteil für das Präventionsversagen der Gewerbeaufsichtsbeamten und der betrieblichen Sicherheitsingenieure nicht wegdiskutiert werden kann, stellen sich die Probleme der Betriebs- und Gewerbeärzte schwieriger dar: Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „Krankheit“ sind sie vom Gesetz- bzw. Verordnungsgeber nur als zweitrangige Funktionsträger eingeplant!

Weil das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) „Berufskrankheiten“ (§ 9 SGB VII) gar nicht wortwörtlich anspricht, werden die Betriebsärzte auch von echten Krankheiten insoweit ferngehalten, als sie nicht berechtigt sind, „Krankmeldungen der Arbeitnehmer auf ihre Berechtigung zu überprüfen“ (§ 3 Abs. 3 ASiG). Folglich haben sie auch nicht die notwendigen medizinischen Informationen für eine BK-Anzeige (§ 202 SGB VII), die eigentlich im Sinne ihrer (theoretischen) Mitschuld einer „Selbstanzeige“ gleichkäme und somit in Gerichtsakten quasi nie auftaucht. Letztendlich handelt es sich bei den Betriebsärzten „nur“ um Betriebsmediziner, weil Mediziner erst durch Patienten zu Ärzten werden – die Mitarbeiter in den Betrieben sind aber keine „Patienten“, weshalb der Begriff „Impfen“ in der ASiG-Aufgabenaufzählung korrekterweise auch nicht erscheint!

Hinweis: Im SGB VII wie auch in der BKV kommen Betriebsärzte übrigens überhaupt nicht vor.

Im Gegensatz zu den Betriebsärzten werden die Gewerbeärzte als die für den „medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen“ im SGB VII behandelt und ihre praktische Aufgabenstellung wird im § 4Abs. 4 BKV näher erläutert. Sie dürfen demnach zwar als staatliche Institution ein BK-Zusammenhangsgutachten erstellen, das dann aber auf der Verwaltungsebene z. B.von den Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen ohne angemessene hoheitliche Gewichtung behandelt wird: Der Staatliche Gewerbearzt entscheidet nämlich nicht über das Vorliegen einer BK, sondern der beklagte „Unternehmerhaftpflicht“-Versicherungsträger! In ihrer Not streben sie daher inzwischen sogar eine nebenberufliche Zusammenarbeit mit diesen BK-Versicherungsträgern als deren „Beratende Ärzte“ an („pecunia non olet“), ohne dass dafür eine gesetzliche Grundlage gegeben wäre. Ihre früher einmal angestrebte Position als Ombudsmänner der BK-Opfer ist heutzutage allein schon aufgrund personeller Ausblutung der Dienststellen – insbesondere in NRW – kein Thema mehr.

Amtliche Datenlage (BMAS)

Den aktuellen statistischen und finanziellen (!) Bericht über „Die gesetzliche Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2020“ hat das Bundesarbeitsministerium gem. § 70 Abs. 3SGB IV erst in diesem Jahr als gedruckte Ausgabe vorgelegt (BMAS 2022). Erstellt wurde er von der Abteilung „Grundsatzfragen des Sozialstaats, der Arbeitswelt und der Transformation der sozialen Marktwirtschaft“.

1. Arbeitsbedingte Todesfälle

Ausgehend von der Vorgabe, dass es die Aufgabe der Unfallversicherung ist, „mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten […] zu verhüten“ (§ 1 SGB VII), erstaunt es doch sehr, dass im Jahr 2020 immer noch mehr als viermal so viele Berufskrankheiten-Todesfälle (N = 2.393) im Vergleich zu den tödlichen Arbeitsunfällen (N = 508) zu beklagen sind (Arbeitswegeunfälle: N = 242).

Bemerkenswert erscheint dabei die Tatsache, dass die seit 2005 sich auf einem Hochplateau bewegenden BK-Opferzahlen nach 15 Jahren endlich einmal eine mögliche Trendwende andeuten könnten.

2. Todesfälle nach BK-Gruppen

Die folgenden BK-Gruppen und -Untergruppen in der Tabelle 2 entsprechen der Gliederung der BK-Entitäten in der Anlage 1 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Wie bereits im vergangenen Jahr an dieser Stelle hervorgehoben wurde – dass, wenn sich Berufskrankheiten nicht schicksalhaft ereignen, sondern alle präventabel sind (Panter, 2012) –, dann darf das deutlich überhöhte Todesfallaufkommen durch inhalative Noxen am Arbeitsplatz (hauptsächlich BK-Gr. 4/„Maskenpflicht“!?) als gravierendes Präventionsversagen unseres „Dualen Arbeitsschutzsystems“ nicht mehr länger öffentlich tabuisiert werden (vgl. Müsch, 2012).

3. Die einzelnen BK-Todesfallarten

Um die Tragweite der fehlenden Berufskrankheiten-Verhütungsvorschrift („BKVV“) zu unterstreichen, wird an dieser Stelle in Tabelle 1 die Statistik zu den einzelnen BK-Todesfällen nach deren Häufigkeitsrangfolge im Jahre 2020 vorgestellt.

Als Resultat der fehlenden Berufskrankheiten-Verhütungsvorschrift (BKVV) gibt es tatsächlich vielfältige und zahlreiche Todesfälle – insbesondere durch Berufskrebs.

Eine Sonderstellung nehmen bekanntlich die durch Asbest verursachten Berufskrankheiten (einschließlich Asbestarbeiter-Bronchitis/siehe 43 02) ein – allen voran das hochmaligne (Pleura-)Mesotheliom (vgl. 41 05), dessen vielfach unterbleibende Früherkennung (z. B. durch Pleuraspiegelung) gutachterlich die größten Probleme bereitet (vgl. hierzu Müsch, 2021).

Da der zugrunde liegende BMAS-Jahresbericht keine näheren Angaben zu den jeweiligen arbeitstechnisch-medizinischen BK-Voraussetzungen macht, sei dazu auf folgende amtliche Quelle verwiesen: www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufs-krankh… (BAuA/vgl. auch Müsch, 2006).

Bedenkliche Entwicklungen

Nach Tuberkulose, Hepatitis und AIDS als klassische Vertreter der BK Nr. 31 01 Anlage 1 BKV („Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war.“), sind im Berichtsjahr 2020 die Covid-19-Fälle noch nicht entscheidend zu Buche geschlagen, aber:

„In den beiden Pandemiejahren gab es […] für Corona knapp 170.000 Verdachtsmeldungen auf Berufskrankheit, von denen bisher rund 101.600 von den gesetzlichen Unfallversicherungen anerkannt wurden.“ (DPA, 24.3.2022/Apotheken Umschau)

Daher sollen im nächstjährigen Kommentar an dieser Stelle die Präventions- (vgl. Panter, 2012) und Quarantäneprobleme einer besonderen Überprüfung unterzogen werden. Dabei wird auch die Haftung bei Impfschäden (!?) durch Impfungen am Arbeitsplatz zur Sprache kommen müssen, da lt. ASiG das Impfen nicht zu den Aufgaben der Betriebsärzte gehört, weil nämlich die Mitarbeiter im Betrieb gar nicht deren „Patienten“ (vgl. Hippokrates) sind.

Resümee

In einer Gesamtschau der zurückliegenden langjährigen AuA-Kritiken zu den BMAS-Jahresberichten kristallisiert sich heraus, dass Betriebs (ASiG)- und Gewerbeärzte (SGB VII, BKV) in der täglichen Praxis und auch im BK-Verfahren anscheinend keinen gemeinsamen Erfahrungsaustausch praktizieren– weil nämlich eine Zusammenarbeit der beiden untereinander in keiner der genannten Rechtsvorschriften thematisiert wird.

Auffallend ist dabei allerdings, dass diese allesamt im BMAS (Heil/SPD) ressortieren, wo das BK-Referat (SGB VII/BKV) überhaupt keinen (Arbeits-) Mediziner beschäftigt und wo das frühere Referat Arbeitsmedizin (mit zwei bekannten BK-kundigen Fachärzten) sowie das Referat „Berufskrankheiten“ der nachgeordneten Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) längst stillgelegt sind.

Als Nebenbemerkung sei an dieser Stelle zur Problematik der BK-Prävention („mit allen geeigneten Mitteln“, § 1SGB VII) noch daran erinnert, dass der derzeitige Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel in seiner Amtszeit als BMAS-Abteilungsleiter „Arbeitsrecht und Arbeitsschutz“ (früher auch einschließlich Arbeitsmedizin) unter Frau Dr. med. v. d. Leyen (vgl. Müsch, 2014) sogar explizit für die „Prävention nach dem SGB VII“ (vgl. BMAS-Organigramm: Abtlg. III/IIIb1) zuständig war!

Da vor diesem Hintergrund die vielfältigen Arbeitsschutzprobleme bei BK-Todesfällen nicht leicht zu lösen sind, sollte erneut diskutiert werden, ob die angesprochenen Berufskrankheiten-Fragen nicht besser im Gesundheitsministerium aufgehoben wären, wie es früher schon einmal unter U. Schmid (BMG/SPD) vorübergehend der Fall war (vgl. Müsch, 2012).

Dr. Franz H. Müsch

Dr. Franz H. Müsch
MedDir a. D., Arbeitsmediziner, Pneumologe, Autor, (Landes-)Sozialgerichtsgutachter
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· Artikel im Heft ·

BK-Präventionsprobleme unseres „Dualen Arbeitsschutzsystems“
Seite 42 bis 45

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