Was erwarten Sie in Sachen Arbeitsrecht von der neuen Bundesregierung?
Wenckebach: Die Ampelkoalition hat sich einiges vorgenommen. Und wenn die Überschrift des Koalitionsvertrags – „mehr Fortschritt wagen“ – tatsächlich Programm werden soll, dann ist gerade im Bereich des Arbeitsrechts viel zu tun. Denn die Corona-Krise hat soziale Spaltung verschärft und gleichzeitig ist die Arbeitswelt massiven Veränderungen unterworfen: Globalisierung und Digitalisierung schreiten voran und schaffen neue Arbeitsformen, die nicht automatisch auch gut sind und konkrete rechtliche Fragen aufwerfen,deren Klärung nicht Arbeitsgerichten überlassen werden darf. Zudem übt die ökologische Transformation der Wirtschaft großen Veränderungsdruck auf die Arbeitswelt aus, dem auch mit den Mitteln des Arbeitsrechts begegnet werden muss. Schließlich sollen vom Fortschritt möglichst viele Menschen profitieren.
Lelley: Arbeitgebende dürften angesichts des Koalitionsvertrags der Ampelkoalition nicht in Freudentränenausbrechen. Doch die Befürchtungen etwa zu Befristungen und Arbeitnehmerüberlassung sind nicht eingetreten. Die Pläne der Ampelkoalition stehen unter dem Titel „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ in Kapitel IV des Koalitionsvertrags. Der Titel zeigt uns bereits deutlich, dass man eine moderne Arbeitswelt schaffen will. Dabei sollen mehr berufliche Chancen ermöglicht und insgesamt mehr Sicherheit und Flexibilität gebracht werden. Arbeitsrechtliche Änderungen will die Koalition insbesondere in Bereichen der Weiterbildung, Arbeitszeit, Befristung, Arbeitnehmerüberlassung und Crowdworking sowie im Bereich der Mitbestimmungsrechte umsetzen. Hier sind allerdings noch die Details abzuwarten.
Welche Vorhaben begrüßen Sie konkret?
Lelley: Begrüßenswert ist, dass die neue Regierung die Bedeutung der Weiterbildung erkannt hat, um die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Wirtschaft zu stemmen. Konkret in Bezug auf die zahlreichen Fördermöglichkeiten ist erfreulich, dass die Koalition nun vorsieht, dass ein Qualifizierungsgeld (ans Kurzarbeitergeld angelehnt) durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann. Außerdem können Arbeitgeber und Arbeitnehmer ähnlich wie in Österreich eine sog. Bildungs(teil)zeit vereinbaren. Damit soll es den Beschäftigten durch Unterstützung in zeitlicher und finanzieller Hinsicht ermöglicht werden, ihren Berufsabschluss nachzuholen. Ermöglicht wird damit auch, dass sich die Beschäftigten weiterqualifizieren oder gänzlich neu orientieren können. In puncto Arbeitszeit ist begrüßenswert, dass durch die sog. „Experimentierräume“ mehr Flexibilität der Arbeitszeit geschaffen wird. Die neue Regierung will erreichen, dass von den derzeit geltenden Regelungen zur Tageshöchstarbeitszeit abgewichen werden kann. Diese flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit soll durch eine kollektive Vereinbarung erlaubt werden. Flexible Arbeitszeitmodelle wie die Vertrauensarbeitszeit sollen aus Sicht der neuen Regierung weiterhin möglich bleiben.
Zu guter Letzt ist außerdem begrüßenswert, dass die Befristung des Arbeitsverhältnisses weiterhin zulässig bleibt. Allerdings wird es bei sachgrundlosen Befristungen voraussichtlich zu Beschränkungen kommen: Die Höchstdauer bei einem Arbeitgeber soll hier auf sechs Jahre begrenzt werden. Damit will man Kettenbefristungen vermeiden. Ausnahmen sind nur selten möglich. Dabei soll vor allem der Bund als Arbeitgeber seiner Vorbildfunktion nachkommen und die sachgrundlose Befristung schrittweise reduzieren.
Wenckebach: Millionen Beschäftigte, die von ihrer Arbeit keine ausreichende Rente erwirtschaften können, werden vom Mindestlohn profitieren. Das ist ein wichtiges Vorhaben. Anlass zur Freude zudem: Eine langjährige Forderung des DGB zum Schutz von Mitbestimmung und vor Union Busting – der illegalen Bekämpfung von Mitbestimmung, Betriebsratswahlen und den dafür Aktiven – soll endlich umgesetzt werden. So soll diese Straftat nach § 119 BetrVG ein Offizialdelikt werden. Das bedeutet, dass Staatsanwaltschaften nicht erst auf Antrag tätig werden, sondern schon sobald sie von Straftaten Kenntnis erlangen.
Positiv ist auch zu bewerten, dass nicht nur die „Allianz für Ausbildung“ fortgesetzt werden soll, sondern auch eine Ausbildungsplatzgarantie in vollqualifizierenden Berufen kommen soll, vorrangig in Betrieben. Weiterbildung und Qualifizierung sind ein Schlüsselthema in der Transformation. Der Koalitionsvertrag greift das auf und sieht deshalb auch zu Recht ein Qualifizierungsgeld vor.
Wichtig, um die gesellschaftlichen Veränderungen im Arbeitsrecht abzubilden und insbesondere Geschlechtergleichstellung voranzubringen, sind des Weiteren die angekündigten Vorhaben zur Reform des Antidiskriminierungsrechts sowie das Ziel, das Pflegezeit- und das Familienpflegezeitgesetz weiterzuentwickeln. Auch die Brückenteilzeit auszubauen, steht zu Recht auf dem Arbeitsplan der Regierung. Beides sind wichtige Vorhaben für mehr Vereinbarkeit, ebenso wie die vergütete Freistellung nach der Geburt eines Kindes für Väter sowie eine Erweiterung der Partnermonate beim Elterngeld.
Und schließlich ist vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung aus Beschäftigtensicht zweierlei wichtig: Zum einen, dass ein digitales Zugangsrecht von Gewerkschaften und Betriebsräten festgeschrieben werden soll, um die Kommunikation von Beschäftigten und Interessenvertretungen auf digitalen Kanälen zu sichern. Zum anderen, dass der Beschäftigtendatenschutz endlich gestärkt werden soll. Hier kommt es natürlich – wie bei allen Vorhaben der Koalitionäre – auf die Umsetzung im Detail an.
Welche Vorhaben sehen Sie kritisch?
Wenckebach: In Sachen Arbeitszeit hatte dasSondierungspapier vor Aufnahme der Koalitionsverhandlungen für großen Ärger bei den Gewerkschaften gesorgt: Es war davon die Rede, Abweichungen zu schaffen von den Regeln des ArbZG zu Ruhe- und Tageshöchstarbeitszeiten – sogar durch Betriebsvereinbarungen. Inzwischen ist klargestellt, dass eine solche Öffnung nur durch Tarifverträge möglich ist, was auch für die Tarifautonomie ein wichtiger Schutz ist. „Experimentierräume“ sollen entstehen. Ich habe die Befürchtung, dass es hier nicht darum geht, wirklich Zeitautonomie für Beschäftigte zu schaffen, sondern darum, den Zugriff auf Beschäftigte zu erhöhen – zulasten ihres Gesundheitsschutzes und Privatlebens. Leider keine Einigung der Koalitionäre ist offenbar dazu gelungen, die Rechtsprechung des EuGH zur Pflicht einer Arbeitszeiterfassung umzusetzen.
Und die Ausweitung von Minijobs halte ich für falsch. Sie verfehlen ihre arbeitsmarktpolitischen Ziele.
Lelley: Eine Schwierigkeit ist sicher, was sich die Ampelkoalition unter „Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts“ vorstellt. Die Ampel will die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickeln und sieht die Gefahr einer Mitbestimmungsvermeidung bei der Gestaltung von SE-Gesellschaften. Das könnte in die falsche Richtung gehen. So las ich erst kürzlich in einer anerkannten gesellschaftsrechtlichen Fachzeitschrift, das deutsche Mitbestimmungsmodell habe keinen Beweis erbracht, dass es individuelle oder gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne erzielen könne. Kein anderer Staat habe das deutsche Modell übernommen. Und auch hätten ausländische Gesellschaften keinen Drang, deutsche Rechtsformen anzunehmen, um unser Mitbestimmungssystem einzuführen. Wenn das richtig ist, wäre sicher ein anderer Denkansatz gefragt als der, den der Koalitionsvertrag jetzt vorgibt.
Was fehlt aus Ihrer Sicht im Koalitionsvertrag?
Lelley: Insgesamt spielen die Herausforderungen der Digitalisierung aus Sicht der neuen Bundesregierung eine große Rolle. Hier will man Antworten finden. Und das ist gut so. Dieser digitale Schwung ist aber im Arbeitsrecht nicht richtig angekommen. So liegen z. B. die Themen Digitalisierung und Entbürokratisierung der betrieblichen Mitbestimmung vielen Unternehmen am Herzen. Das hat auch einen historischen Bezug: Im Januar 2022 haben wir das 50-jährige Jubiläum der Reformgesetzgebung zum Betriebsverfassungsgesetz 1972. Im Jahr 2020/2021 und sicher vor allem aus Anlass der Coronavirus-Pandemie hatte es hier ermutigende, sicher nicht ausreichende, aber doch hoffnungsvolle Ansätze einer auf Digitalisierung zielenden Modernisierung gegeben. Dabei denke ich an die Regelung zu virtuellen Betriebsratssitzung. Dort durften Betriebsräte virtuelle Sitzungen durchführen und dabei auch wirksame Beschlüsse fassen. Das gibt es seit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz 2021 zwar in ähnlicher Form immer noch. Die digitale Regel ist aber zur Ausnahme gemacht worden. Ein anderes Beispiel sind die teilweise antiquierten Formvorschriften im Individualarbeitsrecht, allen voran der berühmte § 623 BGB – Schriftform (eigenhändige Namensunterschrift oder notariell beglaubigtes Handzeichen!) unter Ausschluss der elektronischen Form für Kündigungen und Auflösungsverträge. Bei diesen Formulierungen und Vorgaben denkt man eher an den Beginn des 20. und nicht das 21. Jahrhundert. Heute leben wir in einer Zeit, wo es schon lange zuverlässige und rechtssichere Software zur elektronischen Unterschrift gibt. Leider sehe ich hier auch keinen Reformwillen, da wäre aber was zu tun.
Wenckebach: Da habe ich natürlich auch eine lange Liste. Um hier nur die großen Leerstellen zu nennen: Befristungen ohne Sachgrund sollen nur für den öffentlichen Dienst begrenzt werden.
Und in zwei aus Arbeitnehmersicht sehr zentralen Bereichen fehlt Konkretes: Bei der betrieblichen Mitbestimmung und der sinkenden Tarifbindung haben die Koalitionspartner zwar den Handlungsbedarf erkannt, konnten sich aber – neben einem bundeseinheitlichen Tariftreuegesetz, das natürlich sehr wichtig ist – offenbar nicht auf konkrete Schritte einigen. Hier sind im Koalitionsvertrag nur allgemeine Absichtserklärungen enthalten.
Und beim Megathema künstliche Intelligenz sowie bei der Plattformarbeit verweist der Koalitionsvertrag auf Europa. Angesichts der Grundsatzentscheidungen, die dort für die Arbeitswelt der Zukunft anstehen, ist das zu dünn.
Prof. Dr. Johanna Wenckebach

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