Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1 KSchG). Das ist der Fall, wenn sie nicht durch Gründe in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist (§ 1 Abs. 2 KSchG).
Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG). Hierbei sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die Unterhaltspflichten und eventuell eine Schwerbehinderung des Arbeitnehmers in aller Regel unproblematisch festzustellen.
Ambivalent hingegen ist das Auswahlkriterium „Lebensalter“. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Arbeitnehmer nach wie vor in aller Regel schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Erwerbseinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese letzteren Umstände kann der Arbeitgeber bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigt § 1 Abs. 3 KSchG dem Arbeitgeber einen Wertungsspielraum zu (BAG, Urt. v. 8.12.2022 – 6AZR31/22).
Das Arbeitsrecht unterliegt dem ständigen Wandel der Rechtsprechung. Handwerkliche Fehler sind teuer und vermeidbar. Personalverantwortliche müssen dafür die aktuellen Entwicklungen im Auge behalten.
Gleichwohl darf der Arbeitgeber die Auswahlentscheidung nicht ausschließlich auf ein rentennahes Lebensalter von Mitarbeitern beschränken. Selbst wenn dieses Kriterium im Einzelfall zunächst besticht, dürfen die Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ von Arbeitnehmern bei der Sozialauswahl nicht unberücksichtigt bleiben. So kann auch ein Mitarbeiter im rentennahen Alter gegenüber Ehepartnern oder früheren Ehepartnern unterhaltspflichtig sein, in selteneren Fällen auch gegenüber Abkömmlingen, z. B. behinderten Abkömmlingen.
Ebenso können eine sehr lange Betriebszugehörigkeit und Betriebstreue eines Mitarbeiters trotz des rentennahen Lebensalters im Verhältnis zu anderen Mitarbeitern zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sein. Es ist also davon auszugehen, dass die Rentennähe eines Mitarbeiters nicht isoliert als Auswahlkriterium in Bezug genommen werden darf, ohne die Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ ebenfalls in die soziale Auswahlentscheidung einzubeziehen.
Wie man sieht, ist unter diesen Kautelen die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers nicht einfach. Deshalb empfiehlt es sich – so vorhanden –, den Betriebsrat in die Maßnahme miteinzubeziehen und ggf. durch Betriebsvereinbarung ggf. ein ausgewogenes Punktesystem zu entwickeln, demzufolge dann die Auswahlentscheidung vorzunehmen ist. Nur so können die Wertungsspielräume des Arbeitgebers und ggf. der Betriebspartner rechtssicher in das Verfahren eingebracht werden.
Dr. jur. Günter Schmitt-Rolfes

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