Wann „lohnt“ sich Arbeit?

Ein Kommentar

Erwerbsarbeit wird aktuell in der politischen und medialen Debatte stark auf ihre Funktion der Einkommenserzielung reduziert. Dies birgt Risiken für die Reputation von Arbeit und die Motivation der Beschäftigten. Es wird Zeit, sich wieder auf die vielfältigen Funktionen von Arbeit zu besinnen. Auch damit der betrieblichen Personalarbeit, speziell in den unteren Einkommensgruppen, die vielfältigen Ansatzpunkte für Motivation und Führung nicht aus dem Blick geraten.

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 Bild: Vanz Studio/stock.adobe.com
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Aktuelle Debatte

„Arbeit muss sich lohnen!“ „Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet!“. Das sind zwei Schlüsselsätze, die man von Politikern oft hört und die von den Medien prominent in den Titelzeilen aufgegriffen werden. Es geht dabei um das sog. „Lohnabstandsgebot“ zwischen staatlichen Transferleistungen und bezahlter Erwerbsarbeit in unteren Einkommenskategorien. Eigentlich eine alte Debatte, die immer wieder aufflammte, wenn es um Erhöhungen des Mindestlohns oder Veränderung der Regelsätze in Hartz IV ging. Aktuell ist die Diskussion aber besonders intensiv.

Angetrieben wurde sie durch die deutliche Erhöhung des Bürgergeldes um etwa 12 % zum 1. Januar dieses Jahres im Verbund mit der hohen Inflation, die die Wohlstandsposition speziell der unteren Einkommen massiv bedroht, und durch die hohe Zahl an Kriegsflüchtlingen und Migranten, die staatliche Transferleistungen beziehen und keiner Erwerbsarbeit nachgehen dürfen, können oder wollen. Die Gründe dafür sollen hier nicht debattiert werden, genauso wenig wie die Frage, wie hoch der Einkommensabstand zwischen Erwerbseinkommen und Sozialtransfers sein sollte und wirklich ist. Dies ist auch unter Experten nicht unumstritten.

Der Fokus dieses Beitrags liegt vielmehr auf der Frage, welchen Blick die politischen und medialen Diskutanten auf die Erwerbsarbeit haben. Und da fällt auf, dass es ein höchst eindimensionaler und verkürzender ist. Arbeit wird sehr stark auf ihre materielle Funktion der Einkommenserzielung reduziert. Sie „lohnt“ sich nur bei hinreichend hoher Vergütung, die zudem angemessen über dem Einkommen bei Nichtarbeit liegt.

Risiken

Ohne Zweifel ist Einkommenserzielung eine Schlüsselfunktion von Arbeit. Fast alle Menschen sind auf regelmäßige Erwerbseinkommen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer abhängigen Familienmitglieder bestreiten zu können. Gerade ohne weitere Quellen zur Einkunftserzielung und bei einem „auf Kante genähten“ Familienbudget erlangt die Verdiensthöhe eine zentrale Bedeutung. Der Grenznutzen eines Gutes steigt eben mit seiner Knappheit.

Allerdings ist mit diesem rein materiellen Blick auf die Arbeit das Verhalten von Menschen nicht erklärbar, die sich die Lasten harter Arbeit „antun“, obwohl sie damit gegenüber von Sozialtransfers nur ein höchst überschaubares Mehreinkommen erzielen können oder Teile der Vergütung auf die Zahlungen des Staates angerechnet werden. Nicht erklärbar ist auch die Weiterarbeit derjenigen Altersrentner, die es aufgrund einer auskömmlichen Versorgung eigentlich „nicht mehr nötig haben“ und auch nicht das intensive Engagement in einem fordernden, aber unbezahlten Ehrenamt. Arbeit muss also noch weitere Funktionen haben. Dazu unten mehr.

Wenn Menschen durch Politiker und Medien mit der Botschaft dauerbeschallt werden, dass sich „lohnenswerte Arbeit“ ausschließlich über Geld definiert, dann kann das nicht ohne Konsequenz für deren Denken und Verhalten bleiben! Wer diese Formel häufig genug liest und hört, wird sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit irgendwann als Glaubenssatz in sein eigenes Überzeugungssystem übernehmen. Man fühlt sich dann als „der Dumme“, wenn man einer Erwerbsarbeit nachgeht, obwohl man auch mit Sozialtransfers auf bescheidenem Niveau über die Runden käme. Weiter dynamisiert wird das Entstehen solcher Überzeugungsmuster womöglich aus dem sozialen Umfeld, aus dem der Erwerbsperson bedeutet wird, dass sie „schön dämlich“ wäre und „es doch auch gut ohne die Lasten der Arbeit gehen“ würde. Zusammen mit der Nutzung der sozialen Medien – vorzugsweise in der eigenen kommunikativen Blase – ergibt sich dann der perfekte Selbstverstärkungsmechanismus für obige Glaubenssätze.

Unbeabsichtigt, aber wirkungsvoll hat dann eine reduktionistisch geführte politische Debatte den Wert und die Reputation von Erwerbsarbeit untergraben, sodass sich die Menschen von ihr abwenden. Durch die exklusive Fokussierung auf den extrinsischen Anreiz „Vergütungshöhe“ werden die intrinsischen Anreize von Arbeit verdrängt. Eine verantwortungsvolle politische Debatte muss auch Letztere deutlich akzentuieren. Schnell entstehen sonst sog. „Self-fulfillingProphecies“, die den – vor allem mit Blick auf sozial eher weniger privilegierte Inländer und Migranten – mitunter geäußerten Vorwurf der „Arbeitsunwilligkeit“ ein Stückweit wahrer werden lassen.

Was sind nun weitere Funktionen von Arbeit, die ihr intrinsischen und komplexeren extrinsischen Wert verleihen?

Leistungsstolz und Selbstwert

Es hat Belohnungscharakter, sich sagen zu können, dass man seinen Lebensunterhalt ganz oder zumindest weitgehend aus eigener Kraft erarbeitet und eben nicht von anderen Menschen oder staatlichen Sozialtransfers abhängig ist. Dies stärkt

  • das Autonomieempfinden,
  • fördert internale Kontrollüberzeugungen (= Einfluss auf das eigene Schicksal) und
  • wirkt identitätsunterstützend im Hinblick auf ein Selbstbild als leistungsfähige Person.

Dies wäre die Makroebene von Leistungsstolz. Politik, aber auch Führungskräfte im Unternehmen sollten diesen Aspekt hinreichend wertschätzend adressieren.

Auf einer Mikroebene ermöglicht Arbeit Erfolgserlebnisse über die Erreichung von Aufgabenzielen. Diese bauen das Selbstwertgefühl einer Person auf. Eigene Kompetenzen können eingesetzt und damit erfahrbar gemacht werden. Das Kompetenzvertrauen (= Zutrauen in die eigene Kompetenz) wird gestärkt und die Selbstwirksamkeitserwartung wird gesteigert. Dies sind alles Prozesse, die zu einer Weiterentwicklung der Person beitragen. Fördernd wirken hier wertschätzende Feedbacks von Vorgesetzten, Kollegen und Externen.

Auf einer innerfamiliären Ebene trägt es zum Selbstwert bei, wenn arbeitende Eltern ihren Kindern ein Rollenvorbild für ein strukturiertes und gesellschaftlich integriertes Leben sind. Erwerbsarbeit ist dafür ein wichtiger Baustein. Es kann erfüllend sein und das Familienleben bereichern, wenn Eltern über ihre Erfahrungen bei der Arbeit berichten und Kinder interessiert zuhören. Stolz stellt sich ein, wenn sich Erwerbstätige in ihrer Identität auch über die „BreadwinnerRole“ in der Familie definieren können. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist es für Kinder eine wichtige Sozialisationserfahrung, arbeitende Eltern zu haben. Man weiß, dass die Wahrscheinlichkeit für spätere Erwerbslosenkarrieren steigt, wenn Kinder in Erwerbslosenhaushalten aufwachsen. Nicht ohne Grund gibt es das Bonmot, in dem ein Kind auf die Frage, was es später einmal werden möchte, antwortet: „Hartz IV“.

Zeitstrukturierung

Zeit ist ein knappes Gut, über dessen Verwendung permanent entschieden werden muss. Von ihr geht also ein Gestaltungsanspruch aus. Dieser würde sicherlich nicht alle, aber doch viele Individuen kognitiv überfordern, wenn nicht in gewissem Umfang gesellschaftliche Zeitstrukturen vorgegeben wären. Überforderung mit der Zeitstrukturierung äußert sich in „Zerfaserung des Tages“, Zeitverschwendung und als sinnentleert erlebte Zeit. Alles dies macht Menschen auf Dauer unzufrieden, da sie das Gefühl von sinnvoll genutzter Zeit benötigen (bewusst geplante Freizeitblöcke ohne jegliche Verpflichtungen gehören selbstverständlich auch dazu). Erwerbsarbeit ist ein wichtiger gesellschaftlicher Strukturgeber. Sie teilt den Tag, die Woche und das Jahr in Arbeitszeit und Freizeit, in Arbeitstage und freie Tage. Damit gibt sie im Leben Orientierung und entlastet von permanenten eigenen Entscheidungen zur Zeitverwendung.

Weiterhin erhält freie Zeit erst in einem Spannungsverhältnis zur Arbeit ihren Wert. Ausschließlich Freizeit und Urlaub zu haben, führt zu einem abnehmenden Grenznutzen der freien Zeit und wäre daher auf Dauer schlicht langweilig. Die Vorfreude auf das freie Wochenende oder den Jahresurlaub ist emotional positiv besetzt und ein bereicherndes Element im Leben. Nur ein knappes Gut erfährt auf Dauer Wertschätzung. Erst ein Wechsel von Anspannung und Entspannung setzt positive Reizimpulse im Leben.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Weder sollen hier subtil überfordernde, inakzeptable Arbeitsbedingungen über das „Hohelied auf die Arbeit“ schöngeredet noch soll allen Individuen die Befähigung zu sinnvoller Freizeitgestaltung abgesprochen werden. Aber für viele Menschen bricht ein stabilisierendes Element in ihrem Leben weg, wenn Erwerbstätigkeit völlig fehlt und kompensatorisch keine hinreichende Alternativaufgabe vorhanden ist. Die psychologische Arbeitslosenforschung hat dies empirisch hinreichend belegt. Anekdotisch kennt wohl jeder einen Rentner, der unter dem Wegfall seiner beruflichen Tätigkeit leidet, mit der vielen freien Zeit nicht klarkommt und darüber unzufrieden oder gar krank wird.

Sozialkontakte

Sozialkontakte stellen ein elementares Bedürfnis von Menschen dar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bietet Erwerbsarbeit die Möglichkeit zum Aufbau von vielfältigen stabilen, bereichernden sozialen Beziehungen, die im Einzelfall auch über die Arbeit hinaus Bedeutung haben. Der regelmäßige Kontakt mit Kollegen, Vorgesetzten oder auch externen Personen findet auch für denjenigen statt, der sich nicht aktiv darum bemühen will oder kann. Arbeit kann Plattform für Kommunikation, Kontakte und neue Freundschaften sein. Diese Interaktionen können mitunter auch herausfordernd sein. Aber dann stellen sie ein potenzielles Feld zum Erwerb weiterer Sozialkompetenzen dar.

Aufgrund von Vereinzelungstendenzen bei der Freizeitgestaltung (z.B. Internet, Computerspiele, Medienkonsum) können Sozialkontakte im Beruf zu einem Kompensat für eingeschränkte oder unbefriedigende Sozialbeziehungen im Privatbereich sein. Sie ermöglichen auch Teilhabe an der Realitätskonstruktion anderer Menschen, konfrontieren mit anderen Ideen und Meinungen, bieten einen Rahmen für soziale Vergleichsprozesse und damit zur Selbsteinschätzung. All dies sind Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung.

Gesundheit

Neben dem Burn-out gibt es auch den Bore-out. Auch Langeweile, Reizarmut und Unterforderung können krank machen. Die psychologische Arbeitslosenforschung hat schon sehr früh empirisch nachgewiesen, dass Arbeitslose vielfach ein schlechteres Gesundheitsprofil und eine geringere Lebenserwartung aufweisen als werktätige Menschen. Zwar stellt sich final immer die Frage der Kausalität (führt Arbeitslosigkeit zu schlechterer Gesundheit oder werden gesundheitlich angeschlagene Menschen eher arbeitslos?), aber es spricht viel dafür, dass die Stressfaktoren aus der Arbeitslosigkeit (u.a. materielle Unsicherheit, wegbrechende Zeitstrukturen und Sozialbeziehungen, gefühlte Nutzlosigkeit, ausbleibende Wertschätzung) im Verbund mit einem ungesünderen Lebensstil (Alkohol, Nikotin, Ernährung, weniger Bewegung) zu einer höheren physischen und psychischen Vulnerabilität führen. Überraschenderweise ist Erwerbsarbeit also, trotz aller mit ihr verbundenen Belastungen, oftmals ein gesundheitsstabilisierender Faktor. Eher nur wenigen Menschen dürfte es gelingen, auf Dauer eine im Übermaß vorhandene Freizeit mit Disziplin so zu organisieren, dass sie innere Befriedigung und externe Anerkennung für ihre Zeitverwendung erlangen. Zerfaserte Tagesabläufe und ziel-/nutzlos verstreichende Tage werden dann schnell zur Quelle von Unzufriedenheit und zu krankmachenden Stressfaktoren.

Fazit

Erwerbsarbeit hat vielfältige positive Funktionen für das menschliche Leben. Wird sie im politischen und medialen Diskurs rein auf ihre materielle Funktion der Einkommenserzielung verkürzt, dann entwertet man sie im Hinblick auf ihr gesamtes Spektrum der intrinsischen und extrinsischen Belohnungspotenziale. Übernehmen Menschen dieses Narrativ, dann verbarrikadieren sie sich in einer Art Selbstzensur den Zugang zu den mit Arbeit verbundenen positiven Effekten.

Betriebliche Personalabteilungen und Führungskräfte müssen sich kritisch fragen, ob sie bei ihren Instrumenten, Prozessen und im Führungshandeln – speziell bei einfacheren Tätigkeiten in den unteren Vergütungsgruppen – wirklich schon alle Potenziale ausgeschöpft haben, um den Beschäftigten wertschätzend ihre Hochachtung dafür zu geben, dass sie nicht den vermeintlich leichteren Weg über die Nutzung von Sozialtransfers gehen:

  • Wurde bei der Gestaltung der Arbeit und bei der Mitarbeiterführung schon wirklich alles getan, damit die Werktätigen Erfolge erleben können, ihre Kompetenzen einsetzen und Selbstwirksamkeit erfahren und sich weiterentwickeln können?
  • Nutzt man alle Optionen, damit Mitarbeiter auch gegenüber ihren Kindern und Partnern Stolz auf die eigene Tätigkeit entwickeln können? Gerade bei der Einbindung der Familie, z.B. über Familientage oder auch spezifisch gestaltete Medien („Was macht Mama/Papa eigentlich?“), dürften viele Unternehmen noch „kreative Luft nach oben“ haben.
  • Ist das Arbeitsumfeld konsequent so gestaltet, dass Sozialkontakte und Kommunikation, vielleicht auch das Entstehen von Freundschaften, gefördert werden? Kurz: Gehen die Mitarbeiter gern zur Arbeit, weil sie dort eine erfüllende soziale Situation vorfinden? Auch Freizeitangebote gehören in diesen Kontext.

All dies sind hinlänglich bekannte Beispiele für Ansatzpunkte in der Personalarbeit. Aber sie geraten gerade bei wenig komplexen Tätigkeiten im unteren Bereich der Vergütungsskala gern einmal aus dem Blick. Gerade dort sind sie als Kompensat für eine „übersichtliche“ Vergütung aber besonders wichtig. Personalmanagement muss deutlich werden lassen, dass sich Arbeit auch abseits von Geld „lohnt“.

Prof. Dr. Klaus Watzka

Prof. Dr. Klaus Watzka
Professor für Allgemeine Betriebswirtschaft, insbesondere Personalwirtschaft, Ernst-Abbe-Hochschule Jena
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· Artikel im Heft ·

Wann „lohnt“ sich Arbeit?
Seite 40 bis 42
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