„Wir sehen eine zunehmende Bedeutung der psychischen Gesundheit“

Risikomanagement im Kontext beruflicher Auslandsaufenthalte

Aktuell lassen sich weltweit zahlreiche Krisen und Konflikte beobachten. Dr. Stefan Eßer, Regional Medical Director – Central Europe, International SOS, hat unsere Fragen zu den Auswirkungen auf geschäftliche Auslandsreisen beantwortet.

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 Bild: psychoshadow/stock.adobe.com
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Herr Dr. Eßer, welche sind im Zusammenhang mit beruflichen Auslandsaufenthaltendie zentralen Probleme, mit denen sich Unternehmen 2024 auseinandersetzen müssen?

Das sind die momentan herrschende Unsicherheit und Volatilität aufgrund permanenter Konflikte und Krisen. Diese erschweren für die Unternehmen die Planung und führen auch bei den betroffenen Mitarbeitern zu Ungewissheit. Verglichen mit der Lage vor zehn oder 15 Jahren sind diese Konflikte und Krisen viel gegenwärtiger, weil mehr technische Möglichkeiten bestehen, darüber zu berichten, aber auch Zugang zu bekommen. Daher kommen Krisen, Konflikte und Unsicherheit auch permanent bei uns an.

Welche neuen Entwicklungen sind relevant?

Neu ist sicherlich die zunehmende politische und militärische Unsicherheit. Es sind kaum Krisen geendet oder Konflikte friedlich beigelegt worden, sondern es kommen im Gegenteil ständig neue hinzu.

Aufgrund von KI kommt dabei mittlerweile außerdem die Sorge dazu, dass Texte nicht sorgfältig recherchiert und auf inhaltliche Richtigkeit und Plausibilität geprüft sind. Daher werden bestehende Informationen stärker hinterfragt und sollen noch einmal von anderer Stelle bestätigt werden. Die Fülle an verfügbaren Informationen führt zudem teilweise zu einem Gefühl der Überwältigung oder Hilflosigkeit. Daher legen viele Verantwortliche Wert darauf, die Information von jemandem zu erhalten, der persönlich bekannt ist und zu dem idealerweise ein Vertrauensverhältnis besteht.

Wie beeinflussen bewaffnete Konflikte Gesundheits- und Sicherheitsrisiken?

Aus medizinischer Sicht ist jede Form militärischer oder kriegerischer Auseinandersetzung desaströs. Diese wirken sich stärker als bspw. Seuchen und immer sehr schnell auf die medizinische Versorgung aus. Das fängt damit an, dass Nachschub fehlt, weil Lieferketten unterbrochen oder zumindest beeinträchtigt werden, und setzt sich fort mit der Überlastung von Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen durch das hohe Aufkommen von Menschen, die medizinischer Hilfe bedürfen. Gleichzeitig kommt es häufig zu Personalausfällen, da dieses anderweitig im Krieg eingesetzt wird oder selbst Angriffen zum Opfer fällt.

Wie wirken sich (langandauernde) Krisen auf die psychische Gesundheit aus?

Wir sehen eine zunehmende Bedeutung der psychischen Gesundheit – und seit zwei Jahren hat auch die WHO verstärkt ein Auge darauf. Wir haben ein deutlich höheres Bewusstsein für das Thema, wahrscheinlich auch weil in Europa die körperliche Belastung durch Arbeit stark abgenommen hat.

Die Auseinandersetzung mit den genannten Dauerkrisen, die auf die Menschen einströmen, führt zu einer erhöhten Wachsamkeit. Wir sehen, dass diese Ereignisse die Menschen psychisch betroffen machen. Gleichzeitig erfährt der Bereich gerade eine starke Enttabuisierung, auch wenn es dabei regionale Unterschiede gibt. Das schlägt auf die Unternehmen durch. Auch hier ist das Thema weiter in den Fokus gerückt.

Wie sollten Arbeitgeber ihre Mitarbeiter vorbereiten? Wie können sie Sicherheit auf geschäftlichen Reisen gewährleisten?

Für Unternehmen und für die reisenden Mitarbeiter ist regelmäßig der Abbruch der Geschäftsreise der Worst Case. Dann sind die Reisenden in der Regel schwer krank oder verletzt, das Unternehmen verliert Arbeitskraft und kann ggf. ein Projekt nicht zu Ende führen und hat finanzielle Einbußen. Was wir sehen, ist, dass eine gute Vorbereitung unentbehrlich ist. Diese besteht aus der Vermittlung von Information, Training und Schulung über die Situation am Einsatzort, insbesondere auch über die dort vorhandenen Gesundheits- und Sicherheitsrisiken. Dadurch lässt sich die Zahl der Abbrüche sowie der notwendigen Evakuierungen aus medizinischen und sonstigen Gründen verringern. Wir kennen das vom Militär, wo Soldaten in mehrwöchigen Lehrgängen vorbereitet werden, sofern es sich nicht um eine absolute Ad-hoc-Mission handelt. Unternehmen handhaben das sehr unterschiedlich, aber wir sehen, dass es statistisch weniger Unterbrechungen und Evakuierungen gibt, je besser und länger die Vorbereitung stattfindet.

Hinsichtlich der Inhalte dieser Vorbereitung bietet sich ein breites Spektrum: angefangen von der Zurverfügungstellung von Informationen bspw. über Webseiten oder Dienstleister bis hin zu physischen Trainings und Schulungen, die im Unternehmen durchgeführt werden. Ich denke, wenige Unternehmen machen das so intensiv wie das Militär, aber es gibt Firmen, die sog. Travel-Risk-Awareness-Trainings durchführen, in welchen medizinische und Sicherheitsrisiken besprochen werden und der Umgang damit trainiert wird. Das kann nicht alles verhindern, aber viele Risiken reduzieren. Wir sehen z.B. bei den medizinischen Risiken weiterhin Verkehrsunfälle als einen Hauptgrund für Evakuierungen. Diese lassen sich deutlich reduzieren, wenn die Betroffenen geschult werden, defensiv, vorsichtig und weitsichtig am Straßenverkehr teilzunehmen und bspw. Zweiräder zu meiden, sichere Autos mit geschulten Fahrern zu verwenden sowie Sicherheitsgurte anzulegen. Im Sicherheitsbereich sollte u.a. darauf geschaut werden, was die üblichen Ursachen für Risiken sind. Häufig sind das Banalitäten wie das Benutzen falscher Taxis bzw. Hotels oder mangelnde Vorbereitung auf kulturelle Besonderheiten und daraus resultierende Verhaltensweisen.

Haben sich in diesem Zusammenhang die Erwartungen der Beschäftigten an ihr Unternehmen verändert?

Eindeutig. Das liegt zum einen an der genannten dauerhaften Präsenz von und Konfrontation mit Krisen und Konflikten. Zum anderen haben sich die technischen Möglichkeiten stark weiterentwickelt. Früher wussten die Mitarbeiter nicht so detailliert, was sie bei einem Einsatz in Afrika erwartet; es gab bis auf die Möglichkeit, Briefe zu schreiben, die dann eine Woche unterwegs waren, keinen Kontakt zur Heimatbasis. Heute können wir Informationen zur Lage vor Ort gut generieren, wenn ein entsprechendes Netzwerk existiert. International SOS hat Leute vor Ort – wir sprechen von „boots on the ground“ –, die die Lage evaluieren. Diese Informationen können wir in kürzester Zeit kommunizieren und weltweit helfen, wenn ein Problem auftritt. Heute lassen sich Röntgenbilder, Laborberichte, EKGs etc. unverzüglich via Messenger versenden, Stellungnahmen von Experten einholen und dann entscheiden, ob der Zustand vor Ort behandelbar ist oder die Person in eine andere Einrichtung zu bringen ist. Weil das jetzt möglich ist und die Menschen sich verstärkt damit auseinandersetzen, steigt der Anspruch derjenigen, die reisen, nachvollziehbarerweise, wie ich finde.

Wie sollten Unternehmen insgesamt mit diesen Risiken umgehen?

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Gerade zur Risikominimierung im Zusammenhang beruflicher Reisen besteht mit der ISO-Norm 31030 erstmals ein internationaler Standard in diesem Bereich. In deren Mittelpunkt steht eine Risikobewertung, also eine Gefährdungsbeurteilung. Diese beinhaltet dieFeststellung, welche Risiken vorliegen. Das gilt nicht nur im Großen, für Vorhaben, bei denen 500 Beschäftigte reisen sollen, sondern auch im Kleinen, wenn es zwei oder drei Personen betrifft. Die Fragen, die hier zu stellen sind, lauten: Wie sehen die Probleme vor Ort aus?Gibt es medizinische Unterschiede? Gibt es Sicherheitsunterschiede? Diese sind sodann zu kommunizieren. Schließlich sind die Betroffenen vorzubereiten, zu informieren und zu schulen, wie sie die Risiken minimieren können. Das umfasst bspw. Impfungen, vor Ort zu nutzende Dienstleister wie Taxis, die Sicherheit von Hotels und die Absicherung finanzieller Risiken über eine ausreichende Auslandskrankenversicherung. Der Arbeitgeber sollte seinen Beschäftigten in jeder Phase Unterstützung anbieten.

Einige Unternehmen passen mittlerweile ihre Reiserichtlinie an die ISO-Norm an. Häufig ist darin zwar geregelt, wer Businessclass fliegen darf, aber nicht, wie vorab über Risiken informiert oder bei Problemen während der Reise Hilfe geleistet wird.

Wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen: Was sollte gutes Krisenmanagement beinhalten?

Vor allem Ansprechbarkeit. Das Unternehmen muss vorbereit sein, auf eine Krise zu reagieren. Es muss Ansprechpartner benennen, die die Information aufnehmen und festlegen, wie damit umzugehen ist. Das kann über einen Dienstleister oder über eigenes Personal sichergestellt werden. Wichtig ist, dass jegliche Probleme im Zusammenhang mit der Auslandsaktivität innerhalb von 24 Stunden überhaupt im Unternehmen ankommen und dieses reagieren kann, wenn über technische Hilfsmittel wie Apps die Info kommt, dass ein Mitarbeiter Hilfe benötigt.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass sie relevante Informationen schnellstmöglich erreichen?

Das ist mehr denn je ein Vorabevaluieren, woher ich zuverlässige Informationen zu welchen Themen bekomme: Welche Institutionen liefern wichtige Informationen? Dazu gehören öffentliche Einrichtung, im Gesundheitsbereich bspw. das RobertKoch-Institut und der Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes, aber auch private Dienstleister, die rund um die Uhr eingehende Informationen screenen, auf Plausibilität überprüfen und aufbereiten, um Empfehlungen für den Umgang damit zu geben. Ich glaube, Unternehmen sind gut beraten, wenn sie sich vorab einen Kreis an Quellen suchen, von denen sie wissen, dass sie sich auf diese verlassen können, weil die Informationen entsprechend auf inhaltliche Richtigkeit und Plausibilität geprüft sind.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anne Politz.

Dr. Stefan Eßer

Dr. Stefan Eßer
Regional Medical Director, Central Europe, International SOS
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· Artikel im Heft ·

„Wir sehen eine zunehmende Bedeutung der psychischen Gesundheit“
Seite 38 bis 39
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