Die Forderung nach „Bock auf Überstunden“ auf der einen, eine arbeitende Bevölkerung am Rande ihrer Kräfte auf der anderen Seite – wie soll das zusammengehen? Der Bundesfinanzminister und Wirtschaftsverbände spekulieren darauf, volkswirtschaftliche Probleme auf das Individuum abwälzen zu können. Dabei liegt das wahre Problem darin, welche Arbeit und wessen Leistung gesellschaftlich gesehen und wertgeschätzt werden.
1,2 Bio. Euro. Ohne diese Zahl ist jede Analyse unserer Volkswirtschaft unvollständig. So viel tragen laut Forschungsinstitut Prognos primär Frauen unbezahlt zu unserem Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei: Sie führen Haushalte, waschen Wäsche, kaufen ein, kochen, putzen, ziehen Kinder groß und pflegen Angehörige. Zum Vergleich: Laut Statistischem Bundesamt betrug 2023 das deutsche BIP 4,1 Bio Euro. Frauen erwirtschaften also über ein Viertel der deutschen Wirtschaftskraft mit unbezahlter Sorgearbeit.
Dahinter stecken 72 Mrd. Arbeitsstunden – gegenüber 60,6 Mrd. bezahlten Erwerbsstunden in Deutschland insgesamt. Und das in ihrer „Freizeit“, zusätzlich zur bezahlten Erwerbstätigkeit. Und weil sie zuHause die Gesamtverantwortung tragen, fehlen ihre Stunden dann im Job: Jede zweite teilzeitbeschäftigte Frau würde laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) gerne mehr bezahlt arbeiten (vgl. Wanger, IAB, 2011). Wenn Christian Lindner und Konsorten dem Fachkräftemangel also wirklich etwas entgegensetzen wollen, müssen sie von Männern „Bock auf Überstunden“ in der unbezahlten Sorgearbeit zuHause einfordern. Unseren Wohlstand bedrohen Männer, die sich vor dem Haushalt drücken.
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Was die aktuelle Debatte außerdem ausblendet: Mehr als die Hälfte der Deutschen fühlen sich jetzt schon erschöpft – besonders betroffen sind Frauen und Angestellte (vgl. Tagesspiegel, 2023). Wir stellen jährlich neue Negativrekorde auf bei Arbeitsausfällen im Zusammenhang mit psychischer Belastung: Im Jahr 2022 kamen wir in Deutschland laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der damaligen Linksfraktion auf unglaubliche 130 Mio. Krankheitstage. Wenig überraschend: Mit 77 Mio. Tagen sind Frauen deutlich stärker betroffen als Männer (53 Mio. Tage). Wer kann da ernsthaft „Bock auf Überstunden“ fordern?
Wir leisten also schon mehr als genug – nur das nicht aller Menschen Leistung gleichermaßen gesehen und wertgeschätzt wird. Was Frauen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte, geflüchtete, arme, behinderte Menschen stemmen, wird systematisch entwertet und unsichtbar gemacht – z.B. zeit- und kraftaufwendige Kämpfe mit Behörden und Institutionen. Wer dem Fachkräftemangel wirklich entgegenwirken will, muss also nicht nur Männer an den Herd schicken. Sondern auch marginalisierte Bevölkerungsgruppen gezielter in den bezahlten Arbeitsmarkt einbinden und ihre Bedürfnisse berücksichtigen. Für manche Gruppen und Branchen sind Homeoffice und Viertagewoche realistisch, andere müssen sich andere Maßnahmen überlegen. Und zwar sowohl auf ganzheitlich-volkswirtschaftlicher als auch auf gesellschaftlicher, betrieblicher und individueller Ebene. Wer jetzt nicht vorausschauend und strategisch vorgeht, dem wird später die Hütte brennen. Dann aber bitte nicht meckern und jammern! Stattdessen empfehle ich den Humor eines Restaurants, dessen Schild vor einiger Zeit online viral ging: „Seid bitte nett zu unserem Servicepersonal. Es ist schwerer, Bedienung zu finden als Gäste.“
Martha Dudzinski
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