Anfechtung der Betriebsratswahl: Einspruch gegen die Wählerliste

§ 19 Abs. 1 BetrVG; §§ 4, 2 WO

1. Ein Einspruch gegen die Richtigkeit der Wählerliste nach § 4 Abs. 1 WO ist nicht Voraussetzung dafür, in einem späteren Wahlanfechtungsverfahren die Aufnahme nicht Wahlberechtigter in die Wählerliste rügen zu können.

2. Der Wahlvorstand ist zwar nicht dazu verpflichtet, die Wählerliste auch in elektronischer Form zu veröffentlichen. Macht er aber von der durch § 2 Abs. 4 Satz 3 WO eröffneten Möglichkeit einer ergänzenden Bekanntmachung der Wählerliste mittels der im Betrieb vorhandenen Informations- und Kommunikationstechnik Gebrauch, muss er auch im Verlauf des Wahlverfahrens vorgenommene Änderungen der Wählerliste auf entsprechendem Wege bekannt machen.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Beschluss vom 2.8.2017 – 7 ABR 42/15

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Betriebsratswahl 2014. Der Wahlvorstand einer Klinik erließ am 28.1.2014 ein Wahlausschreiben, in dem u. a. stand:

„Mit diesem Wahlausschreiben und den dazugehörigen Wählerlisten sowie der Wahlordnung (WO) zum Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist die Betriebsratswahl eingeleitet. Die Wählerlisten und die Wahlordnung hängen für jedermann zugänglich in bzw. an den Schaukästen an der Zentralumkleide (Bauteil A, EG), im Vorraum zur Verwaltung (Bauteil C, EG) sowie im Gang zum Wirtschaftshof (Bauteil A, 1. UG), zur Einsichtnahme aus. Wahlausschreiben, Wählerlisten und Wahlordnung können außerdem im Intranet eingesehen werden.“

Er korrigierte die veröffentlichten Wählerlisten mehrfach. Eine Korrektur der auch im Intranet veröffentlichten elektronischen Wählerliste erfolgte jedoch nicht. Damit gab es unterschiedliche Wählerlisten mit unterschiedlichen Angaben zu den wahlberechtigten Arbeitnehmern. Vier Arbeitnehmer fochten die Betriebsratswahl aus diesem Grund an. Einen Einspruch gegen die Richtigkeit der Wählerliste hatten die Betroffenen beim Wahlvorstand zuvor aber nicht eingelegt. Der neu gewählte Betriebsrat war der Auffassung, dass eine Anfechtung deshalb ausscheide. Außerdem komme es auf die Wählerliste im Intranet nicht an, da diese nur optional sei. Das ArbG erklärte die Wahl für unwirksam, das LAG wies die Beschwerde des Betriebsrats zurück.

Entscheidung

Das BAG hielt die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats auch für unbegründet, denn die Betriebsratswahl ist nach § 19 Abs. 1 BetrVG unwirksam. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Wahl beim ArbG angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte. Zur Anfechtung berechtigt sind nach § 19 Abs. 2 Satz 1 BetrVG mindestens drei Wahlberechtigte, eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft oder der Arbeitgeber. Die Wahlanfechtung ist nach § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG binnen einer Frist von zwei Wochen, vom Tage der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an gerechnet, zulässig. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Auch wenn eine Anfechtung der Betriebsratswahl mit einer Fehlerhaftigkeit der Wählerliste begründet wird, ist ein vorheriger Einspruch gegen die Wählerliste (§ 4 Abs. 1 WO) nach dem BAG keine formelle Voraussetzung für die – spätere – Anfechtung (so ErfK/Koch, 17. Aufl., § 19 BetrVG Rdnr. 3; a. A: Fitting, 28. Aufl., § 19 BetrVG Rdnr. 14). Eine solche gravierende Rechtsfolge hätte einer gesetzlichen Regelung bedurft. Ohne gesetzliche Verordnungsermächtigung können die Bestimmungen der WO als niederrangige Rechtsnormen gegenüber dem Gesetz weder zusätzliche materielle Voraussetzungen aufstellen noch von den gesetzlichen Anforderungen Ausnahmen zulassen. Sie können somit das gesetzliche Anfechtungsrecht nicht einschränken (GK/Kreutz, 10. Aufl., § 19 BetrVG Rdnr. 60). Die materiellen Voraussetzungen einer Wahlanfechtung nach § 19 Abs. 1 BetrVG liegen ebenfalls vor. Bei der Wahl wurde gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen. Der Wahlvorstand hat gegen § 2 Abs. 4 WO verstoßen, indem er die Wählerliste nachträglich um 17 Personen ergänzt hat, ohne die im Intranet veröffentlichte Fassung der Liste entsprechend zu ändern. Der Wahlvorstand ist zwar nicht dazu verpflichtet, die Wählerliste auch in elektronischer Form zu veröffentlichen. Macht er aber von der durch § 2 Abs. 4 Satz 3 WO eröffneten Möglichkeit einer ergänzenden Bekanntmachung der Wählerliste mittels der im Betrieb vorhandenen Informations- undKommunikationstechnik Gebrauch, muss er auch im Verlauf des Wahlverfahrens vorgenommene Änderungen der Wählerliste auf entsprechendem Wege bekannt machen (Richardi/Forst, BetrVG, 15. Aufl., § 2 WO Rdnr. 16). Arbeitnehmer, die sich über ihre Wahlberechtigung informieren wollen, müssen nicht mit Abweichungen zwischen den im Betrieb ausgelegten und den im Intranet veröffentlichten Wählerlisten rechnen. Der Fehler war möglicherweise kausal für das Wahlergebnis. Nachträgliche Recherchen über das Wahlverhalten einzelner Wahlberechtigter verletzen den durch § 14 Abs. 1 BetrVG gewährleisteten Grundsatz der geheimen Wahl und sind deshalb unzulässig. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für den eigentlichen Wahlakt, sondern auch für die Wahlvorbereitung sowie nach Beendigung der Wahl gegenüber Auskunftsverlangen über die Stimmabgabe.

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Konsequenzen

Die Entscheidung klärt die höchstrichterlich offene und umstrittene Frage, ob ein vorheriger Einspruch gegen die Wählerliste eine formelle Voraussetzung für die spätere Anfechtung ist: Er ist es nach dem BAG nicht. Der Wahlvorstand ist wegen der Bedeutung der Aufnahme wahlberechtigter Arbeitnehmer in die Wählerliste dazu verpflichtet, die Richtigkeit der Wählerliste laufend zu überprüfen. Insoweit stellt das BAG klar, dass bei optionaler Verwendung einer elektronischen Form der Wählerliste (im Intranet) diese mit der Papierversion durchgehend 1:1 identisch sein muss. Abweichungen bzw. die Nicht-Pflege der Onlineversion der Wählerliste können einen Anfechtungsgrund begründen.

Praxistipp

Bis zur Rechtskraft der erfolgreichen Wahlanfechtung bleibt ein Betriebsrat im Amt und kann z. B. wirksam Betriebsvereinbarungen schließen, Schulungen besuchen und Beschlussverfahren einleiten. Auch wenn ein Einspruch gegen die Wählerliste im laufenden Wahlverfahren nicht Voraussetzung für eine spätere Anfechtung ist, zeigt der Fall, dass es wichtig ist, erkannte Wahlfehler noch vor der Stimmabgabe zu korrigieren, z. B. durch Einspruch gegen eine fehlerhafte Wählerliste. Korrigiert der Wahlvorstand die Wählerliste dann nicht, kann das ArbG per einstweiliger Verfügung dem Wahlvorstand eine Korrektur aufgeben.

RA Volker Stück, Bonn

Volker Stück

Volker Stück
Rechtsanwalt, Lead Expert Labour Law & Mitbestimmung, BWI GmbH, Bonn
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· Artikel im Heft ·

Anfechtung der Betriebsratswahl: Einspruch gegen die Wählerliste
Seite 314 bis 315
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