Problempunkt
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 15.9.2015 als SAP-Berater/Solution Architect beschäftigt. Im Arbeitsvertrag fand sich folgende Klausel: „Der Arbeitsort ist Köln und bei Projektarbeit vor Ort die jeweiligen Standorte der Kunden bundesweit. Die Gesellschaft behält sich vor, dem Arbeitnehmer zumutbare Tätigkeiten im Unternehmen zu übertragen.“ Die Beklagte ist ein weltweit tätiger Anbieter für IT-Dienstleistungen mit einem jährlichen Umsatz von ca. 1 Mrd. USD und über 20.000 Beschäftigten. Sie unterhält weltweit „Büros“, darunter auch ein deutsches Büro in München. In Deutschland beschäftigt die Beklagte ca. 200 Mitarbeiter. Am Standort in Köln befand sich eine im Handelsregister eingetragene Zweigniederlassung, in der zuletzt nur der Kläger als einziger Arbeitnehmer beschäftigt war. Das Unternehmen der Beklagten ist in einer Matrixstruktur organisiert. Es bilden sich je nach Kundenwunsch nicht auf Dauer angelegte Teams zur gemeinsamen Projektarbeit.
Mit Schreiben vom 29.1.2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30.4.2020. Dieser meint, bei der Niederlassung in Köln habe es sich nicht um einen abgrenzbaren Kleinbetrieb gehandelt. Er sei regelmäßig in Projekten eingesetzt gewesen. Dort habe er immer mit anderen Mitarbeitern der Beklagten zusammengearbeitet. Das ArbG Köln hat die Klage abgewiesen, da der Kläger in einem Kleinbetrieb beschäftigt worden und deshalb das KSchG gem. § 23 KSchG nicht anwendbar sei.
Entscheidung
Das LAG Köln hob die Entscheidung des ArbG Köln auf und gab der Kündigungsschutzklage statt. Der Kläger ist kein solitärer eigener Betrieb innerhalb des Unternehmens, sondern Teil einer Matrixstruktur. Jedenfalls fehlt es an einer im prozessualen Sinne erheblichen Einlassung der Beklagten zur Behauptung des Klägers, er sei im Rahmen einer derartigen Matrixstruktur in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigt (§§ 138 Abs. 3 ZPO; § 23 Abs. 1 KSchG). Bezüglich der Frage, wer die Beweislast dafür trägt, dass das KSchG anwendbar ist, reicht es aus, dass der Arbeitnehmer die äußeren Umstände schlüssig darlegt, die für die Annahme sprechen, dass die Betriebsstätte, in der er beschäftigt ist, über keinen eigenständigen Leitungsapparat verfügt, diese vielmehr zentral gelenkt wird. Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger schlüssig behauptet, er selbst und alleine stelle keinen eigenständigen, aus dem Ausland geführten Betrieb dar, sondern er sei vielmehr in eine größere, von München aus gesteuerte organisatorische Einheit (Matrixstruktur) eingebunden.
Die Einlassungen der Beklagten hierzu sind mit Blick auf die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG unkonkret und nicht nachvollziehbar. Letzteres gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Arbeitsorganisation, die Weisungsbefugnisse und die im Einzelprojekt eingerichtete Teamzusammenstellung im Unternehmen unstreitig in einer Matrixstruktur erfolgen. Matrixstrukturen sind – wie unstreitig im international agierenden Konzern der Beklagten – so gestaltet, dass nicht jede einzelne Gruppen-/Konzerngesellschaft vertikal hierarchisch und horizontal bereichs- oder aufgabenspezifisch gegliedert ist, sondern die einzelnen Gesellschaften selbst und in ihrer Funktion als Arbeitgeber wirtschaftlich in den Hintergrund treten und vielmehr der Konzern oder die Gruppe selbst nach Aufgaben- und Funktionsbereichen gegliedert wird. In den einzelnen organisatorischen Bereichen des Konzerns/der Gruppe werden dann Mitarbeiter verschiedener Konzern-/Gruppengesellschaften gemeinsam beschäftigt. Die Berichtslinien verlaufen nicht mehr vertikal in der Anstellungsgesellschaft, sondern konzern- bzw. gruppenbezogen (Gimmy & Hügel, NZA 2013, S. 764).
Die Kündigung ist nach dem somit anwendbaren§ 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, denn sie ist nicht sozial gerechtfertigt, d. h. nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Die vorgetragene Unternehmerentscheidung betrifft nur den einen Arbeitsplatz und begründet damit nicht die Vermutung, sie sei sachgerecht und willkürfrei (BAG, Urt. v. 19.7.2016 – 2 AZR 468/15, Rz. 20, NZA 2016, S. 1196). Das führt zu einer erhöhten Darlegungslast für die Beklagte zur Motivation für die Entscheidung, zum Inhalt der Entscheidung, zur Kausalität der Entscheidung für den Wegfall des konkreten Beschäftigungsbedürfnisses, zum Ausschluss milderer Mittel, z. B. einer Änderungskündigung, und zur Umsetzbarkeit der Entscheidung, also zum unternehmerischen Konzept, das der Unternehmerentscheidung zugrunde liegt.
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Konsequenzen
Matrixstrukturen in Unternehmen verbreiten sich weiter und haben bisher die Arbeitsgerichte vorrangig im Rahmen des § 99 BetrVG bei Einstellungen beschäftigt (BAG, Urt. v. 12.6.2019 – 1 ABR 5/18, AuA 10/19, S. 612; v. 22.10.2019 – 1 ABR 13/18, AuA 4/20, S. 247). Sie kommen nun auch im Kündigungsrecht an: Während das ArbG Köln annahm, dass der Kläger in einem Kleinstbetrieb beschäftigt wurde, hat das LAG Köln darauf abgestellt, dass bei einer Beschäftigung in einer Matrixstruktur des Unternehmens andere Maßstäbe anzulegen sind und dies dazu führen kann, dass das KSchG Anwendung findet, wenn die Leitung und entsprechende Entscheidungen im Inland zentral woanders – hier München – getroffen werden.
Praxistipp
Es muss stets sorgfältig geprüft werden, ob ein Einsatz in der Matrixstruktur erfolgt, der zu einer Anwendung des KSchG führt. Ist dies der Fall, muss die soziale Rechtfertigung der Kündigung voll dargelegt und nachgewiesen werden.
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