Betriebsrisiko bei coronabedingter Betriebsschließung

§ 615 BGB; § 611a Abs. 2 BGB

Die im Rahmen eines allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie staatlich verfügte vorübergehende Betriebsschließung ist kein Fall des vom Arbeitgeber nach § 615 Satz 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos.

(Leitsatz des Gerichts)

BAG, Urteil vom 13.10.2021 – 5 AZR 211/21

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Bild: AlcelVision/stock.adobe.com
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Problempunkt

Die beklagte Arbeitgeberin unterhält eine Filiale für Nähmaschinen und Zubehör in Bremen. Dort ist die Klägerin im Rahmen eines Minijobs für 432 Euro/Monat geringfügig beschäftigt.

Im April 2020 musste die Beklagte das Ladengeschäft aufgrund der Allgemeinverfügung über das Verbot der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus der Freien Hansestadt Bremen vom 23.3.2020 schließen. Die Arbeitnehmer konnten nicht arbeiten. Für die nicht geringfügig Beschäftigten führte die Beklagte Kurzarbeit ein. Bei der Klägerin hingegen war dies nicht möglich, denn als geringfügig Beschäftigte erfüllt sie nicht die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld. Die Beklagte zahlte der Klägerin keine Vergütung für April 2020. Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin die Zahlung ihres Entgelts i. H. v. 432 Euro wegen Annahmeverzugs. Die Klage hatte in den Instanzen Erfolg.

Entscheidung

Das BAG hielt die Klage für unbegründet und wies sie ab. Es besteht kein Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs aus §§ 615 Satz 1, 611a Abs. 2 BGB. Der Arbeitgeber trägt nicht das Risiko des Arbeitsausfalls. § 615 Satz 3 BGB regelt nicht, in welchen Fällen der Arbeitgeber dieses Risiko trägt, sondern das von der Rechtsprechung entwickelte Betriebsrisiko. Über interne Betriebsstörungen hinaus trägt der Arbeitgeber grundsätzlich auch das Risiko für von außen einwirkende Umstände, z. B. Brände (BAG, Urt. v. 23.9.2015 – 5 AZR 146/14; ErfK/Preis, BGB § 615 Rz. 130 f.).

Die Beantwortung der Frage, ob zu dem vom Arbeitgeber nach § 615 Satz 3 BGB zu tragenden Betriebsrisiko auch eine i. R. d. Bekämpfung einer Pandemie behördlich angeordnete (vorübergehende) Betriebsschließung gehört, bedarf der Differenzierung. Schließt der Arbeitgeber selbst seinen Betrieb, trifft ihn grundsätzlich das Betriebsrisiko (BAG, Urt. v. 9.7.2008 – 5 AZR 810/07, Rz 24). Muss er aufgrund einer behördlichen Anordnung zur Bekämpfung und i. R. d. Pandemie seinen Betrieb (vorübergehend) schließen, lässt sich die Annahme, der Arbeitgeber trage in diesem Fall stets das Risiko des Arbeitsausfalls nach § 615 Satz 3 BGB, nicht mit „höherer Gewalt“ begründen. Die Ursache der „Betriebsstörung“ liegt vielmehr in einer hoheitlichen Maßnahme, die die zuständigen staatlichen Stellen zur Bekämpfung der Pandemie für erforderlich halten (ErfK/Preis, BGB § 615 Rz. 132 f.). Die Antwort auf die Frage, ob der Arbeitgeber das Entgeltrisiko bei einer öffentlich-rechtlich verfügten Betriebsschließung trägt, kann sich nur nach deren Zweck richten. Der Arbeitgeber trägt nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn die behördlich verfügte Schließung im Rahmen allgemeiner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erfolgt und – betriebsübergreifend – zum Schutz der Bevölkerung die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. In diesem Fall realisiert sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb aufgrund seiner konkreten Produktions- und Arbeitsbedingungen – dem Betriebssubstrat – angelegtes Risiko, sondern die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft allgemein treffenden Gefahrenlage, die der einzelne Arbeitgeber nicht verursacht und zu verantworten hat. Eine „besondere Eigenart“ des Betriebs oder eine „Publikumsaffinität“ genügt nicht, um dem Arbeitgeber das Betriebsrisiko zuzuweisen. Notwendig ist vielmehr eine hinzukommende objektive Verantwortung des Arbeitgebers für die Arbeits- und Produktionsbedingungen in dem betroffenen Betrieb, welche die Verbreitung eines Krankheitserregers in besonderer Weise begünstigen.

Es ist Sache des Staates, ggf. für einen Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile zu sorgen. Staatliche Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte stehen dieser Einordnung des „Pandemierisikos“ nicht entgegen. Bei Vorliegen der Voraussetzungen für Kurzarbeit und wenn dadurch die durch die staatlich verfügte Betriebsschließung entstehenden finanziellen Nachteile für die Arbeitnehmer abgemildert werden können, dürfte der Arbeitgeber aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet sein, seinen Beschäftigten den Bezug von Kurzarbeitergeld zu ermöglichen. Es ist unerheblich, ob der Staat für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten entstehenden finanziellen Nachteile tatsächlich gesorgt hat. Dass für geringfügig Beschäftigte ein Zugang zum Kurzarbeitergeld nicht gewährleistet ist, beruht auf Lücken im Sozialversicherungssystem. Hieraus ergeben sich keine Rückschlüsse auf eine Zahlungspflicht des Arbeitgebers nach § 615 Satz 3 i. V. m. Satz 1, § 611a Abs. 2 BGB.

Nach diesen Grundsätzen trägt die Beklagte nicht das Risiko des Arbeitsausfalls durch die Schließung ihrer Filiale aufgrund der o. g. Allgemeinverfügung. Die weitgehende Schließung des Einzelhandels im Bundesland Bremen war Teil eines Bündels von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor SARS-CoV-2-Infektionen und dem damit verbundenen Risiko schwerer und tödlicher Krankheitsverläufe. Sie beschränkte sich nicht auf die Abwehr besonderer, von einzelnen Betrieben ausgehender Gefahren, sondern sollte eine die Gesellschaft insgesamt treffende Gefahrenlage bekämpfen.

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Konsequenzen

Das BAG nimmt mit dieser ersten Grundsatzentscheidung zum Pandemiearbeitsrecht eine zutreffende Bewertung der Risikoverteilung vor. Über eine lehrbuchartige Darstellung des Regelungsinhalts von § 615 BGB und der Betriebsrisikolehre kommt das BAG zu dem Ergebnis, dass Arbeitgeber bei flächendeckenden staatlich angeordneten Schließungen zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht das Lohnrisiko tragen. Schutzlücken müssen in einer pandemischen Lage durch den Staat, nicht durch eine Abwälzung von Verantwortung auf Arbeitgeber geschlossen werden. Das BAG stellt zudem klar, dass der vorübergehende Charakter der behördlich angeordneten Betriebsschließung nach dem Ultima-Ratio-Prinzip keine dauerhafte Beendigungskündigung rechtfertigt, jedenfalls solange der Arbeitgeber die behördliche Anordnung nicht zum Anlass nimmt, seinen Betrieb endgültig stillzulegen oder dauerhaft umzustrukturieren (BAG, Urt. v. 21.6.2001– 2 AZR 137/00). Keine Rolle spielt, ob das Risiko, den Betrieb aufgrund hoheitlicher Maßnahmen schließen zu müssen, versicherbar ist (vgl. BGH, Urt. v. 26.1.2022 – IV ZR 144/21, NJW 2022, S. 872: Gastronomie).

Praxistipp

Arbeitgeber sollten im Falle der pandemiebedingten Betriebsschließung Kurzarbeit beantragen, schon um möglichen Schadensersatz zu vermeiden (ErfK/Preis, BGB § 615 Rz. 132k). Bei nicht KUG-berechtigten Beschäftigten tragen sie nicht das Vergütungsrisiko. Sollten Arbeitgeber Lohnzahlung im Frühjahr 2020 zu Unrecht erbracht haben, dürfte der Rückforderungsanspruch aufgrund von Ausschlussfristen i. d. R. erloschen sein.

Volker Stück

Volker Stück
Rechtsanwalt, Lead Expert Labour Law & Mitbestimmung, BWI GmbH, Bonn
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Betriebsrisiko bei coronabedingter Betriebsschließung
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