Massenentlassungsanzeige: Berücksichtigung krankheitsbedingter Kündigungen

§ 134 BGB; §§ 1, 17 KSchG

Dem Begriff der „Entlassung“ i.S. d. § 17 Abs. 1 KSchG unterfallen auch krankheitsbedingte Kündigungen. Unter entsprechender Berücksichtigung krankheitsbedingter Kündigungen ist demnach beim Überschreiten der einfachgesetzlich normierten Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG ein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführen sowie eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten.

(Leitsatz des Bearbeiters)

LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2021 – 7Sa405/21

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Bild: AlcelVision/stock.adobe.com
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Problempunkt

Im vorliegenden Fall stritten die Parteien über die (vermeintliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch krankheitsbedingte Kündigungen. Die betriebsratsgebundene Beklagte erbringt im Mehrschichtbetrieb mit über eintausend Beschäftigten insbesondere Sicherheitskontrollen an einem westdeutschen Flughafen – mit Wirkung ab dem 15.4.2008 war der Kläger bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin entsprechend als Luftsicherheitsassistent angestellt. Im Kalenderjahr 2020 leistete die Beklagte an den klagenden Arbeitnehmer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben für insgesamt 35 Tage Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ähnlich manifestierte sich die Situation in den vorherigen Jahren, insoweit die Beklagte aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des Klägers – d. h. mithin für 62 Fehltage (2017), 29 Fehltage (2018) bzw. 58 Fehltage (2019) – Lohnfortzahlungen erbrachte.

Nach Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) im Frühjahr 2020 hörte die Beklagte nunmehr im November 2020 den Betriebsrat zur geplanten Kündigung an – mit Schreiben vom 25.11.2020 wurde das streitbefangene Arbeitsverhältnis krankheitsbedingt ordentlich gekündigt. Im Zeitraum vom 25.11.2020bis 22.12.2020 kündigte die Beklagte zudem noch weiteren Arbeitnehmern krankheitsbedingt, sodass innerhalb von 30 Kalendertagen – mithin deutlich mehr als arbeitgeberseitig geplant – insgesamt 34 Kündigungen erklärt wurden. Vom Arbeitgeber wurde demzufolge auch weder ein Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt noch eine Massenentlassungsanzeige erstattet. Nach wiederholter Anhörung des Betriebsrats im Januar 2021 erfolgte sodann mit Schreiben vom 22.1.2021 eine (erneute) Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers.

Der Kläger begehrte gerichtlich die Feststellung eines unveränderten Fortbestands des Arbeitsverhältnisses infolge Unwirksamkeit der Kündigung vom 25.11.2020 wegen fehlenden Konsultationsverfahrens bzw. unterlassener Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG i. V. m.§ 134 BGB – überdies hielt der Kläger die Kündigung vom 22.1.2021 aufgrund Sozialwidrigkeit i.S. d. §§ 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG für rechtsunwirksam. Nach Auffassung des Arbeitgebers unterfielen krankheitsbedingte Kündigungen jedoch nicht dem Begriff der „Entlassung“ i.S. v. § 17 KSchG und demnach seien sowohl Konsultationsverfahren als auch eine Massenentlassungsanzeige entbehrlich gewesen – beide Kündigungen wurden aufgrund der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers zudem auch für sozial gerechtfertigt erachtet. Im erstinstanzlichen Verfahren wurde der Kündigungsschutzklage indes vollumfänglich stattgegeben.

Entscheidung

Das LAG Düsseldorf bestätigte die für den Arbeitgeber nachteilhafte Entscheidung der Vorinstanz. Eine eigenständige Legaldefinition von „Entlassung“ ist § 17 Abs. 1 KSchG zwar nicht immanent – eine insoweit erforderliche Auslegung dieser Vorschrift erfolgt indes anhand anerkannter juristischer Methodik, d. h. unter Berücksichtigung des Wortlauts, der Systematik, von Sinn und Zweck sowie anhand von Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte (vgl. BAG, Urt. v. 16.10.2019 – 5 AZR 241/18, AuA 2/20, S. 118). Eine solche Auslegung zeitigt ein inklusives Begriffsverständnis, d. h. dem maßgeblichen Begriff der „Entlassung“ unterfallen auch krankheitsbedingte Kündigungen. Werden unter deren Berücksichtigung die gesetzlich normierten Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG überschritten, so wird hierdurch – mithin als Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Kündigung (vgl. BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, AuA  12/13, S. 710; v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, AuA  12/19, S. 727) – ein Konsultationsverfahren bzw. eine Massenentlassungsanzeige erforderlich. Demzufolge war die Kündigung vom 25.11.2020 bereits allein deshalb nach § 17 KSchG i. V. m.§ 134 BGB rechtsunwirksam. Die Kündigung vom 22.1.2021 wurde vom erkennenden Gericht als sozial ungerechtfertigt beurteilt, da die Beklagte keine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen aufgrund etwaiger – ggf. zukünftig noch zu erwartender – krankheitsbedingter Fehlzeiten des Klägers darzulegen vermochte.

Konsequenzen

Die Bedeutung der Entscheidung geht deutlich über die Ausführungen zur „Entlassung“ samt gebotener Berücksichtigung verhaltens- und personenbedingter Kündigungen bei der Berechnung eines etwaigen Überschreitens des jeweils einschlägigen Schwellenwerts nach § 17 Abs. 1 KSchG hinaus. Im Zusammenhang mit Personalabbaumaßnahmen müssen Arbeitgeber daher zukünftig ein besonderes Augenmerk vor allem nunmehr auch auf – zeitlich mit dem insoweit jeweils relevanten Zeitraum von 30 Kalendertagen koinzidente – ordentliche Kündigungen aus verhaltens- oder personenbedingten Gründen legen sowie ggf. diese zur Vermeidung nachteilhafter Rechtsfolgen gleichermaßen in Konsultationsverfahren und Massenentlassungszeige inkludieren. Personalabbaumaßnahmen mit zeitlich gestaffelter Vorgehensweise in mehreren Wellen bzw. unter Rückgriff auf aufschiebend bedingte Aufhebungsverträge zur Vermeidung eines Überschreitens der einschlägigen Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG dürften insoweit wohl weiterhin den Königsweg darstellen.

Praxistipp

Im Einzelfall kann eine vorsorgliche Durchführung eines Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat bzw. die überobligatorische Erstattung einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige (sicherheitshalber) durchaus empfehlenswert sein – dies gilt umso mehr, wenn die voraussichtliche Anzahl geplanter (betriebsbedingter) Kündigungen oder entsprechend gleichgestellter Beendigungen innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen bereits für sich genommen knapp unterhalb des einschlägigen Schwellenwerts notiert und zusätzliche Anhaltspunkte (bspw. laufende Anhörungen des Betriebsrats oder offene Antragsverfahren beim Integrationsamt) ein etwaiges Überschreiten infolge des Ausspruchs weiterer ordentlicher verhaltens- oder personenbedingter Kündigungen nahelegen.

David Johnson

David Johnson
MBA, LL.M. (Stellenbosch), Compliance Officer (Univ.), Rechtsanwalt, München
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Massenentlassungsanzeige: Berücksichtigung krankheitsbedingter Kündigungen
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