Mindestlohn für Arbeitsbereitschaft
Problempunkt
Der Kläger war bei der Beklagten als Rettungsassistent beschäftigt. Er verlangte von der Beklagten die zusätzliche Vergütung von Bereitschaftszeiten mit dem gesetzlichen Mindestlohn.
Nach dem auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Tarifvertrag des Deutschen Roten Kreuzes vom 16.6.2014 (DRK-RTV) beträgt die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers 38,5 Stunden. Die Arbeitszeit kann aufgrund Tarifvertrags auf bis zu 12 Stunden täglich und durchschnittlich 48 Stunden wöchentlich verlängert werden, wenn regelmäßig eine Arbeitsbereitschaft von durchschnittlich mindestens drei Stunden täglich darunterfällt. Von dieser Option hatte der Arbeitgeber Gebrauch gemacht, ohne dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden überschritten wurde. Der Kläger bezog ein monatliches Tabellenentgelt nach der für ihn anwendbaren Entgeltgruppe. Nach § 29 Abs. 7 DRK-RTV ist mit diesem Entgelt die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers abgegolten, auch wenn diese wie vorliegend nach den Vorgaben des Tarifvertrags verlängert wird.
Mit seiner Klage verlangte der Rettungsassistent weiterhin den gesetzlichen Mindestlohn für zusätzliche von ihm im Streitzeitraum geleistete Bereitschaftsstunden.
Entscheidung
Im Ergebnis stand dem Kläger kein Zahlungsanspruch zu. Allerdings ist auch für Arbeitsbereitschaft der gesetzliche Mindestlohn zu zahlen. Denn der Arbeitgeber schuldet den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde, ohne dass das Gesetz nach dem Grad der tatsächlichen Inanspruchnahme differenziert.
Der gesetzliche Mindestlohnanspruch des Klägers war bereits durch Gewährung seines regelmäßigen monatlichen Tabellenentgelts erfüllt. Denn bei einer maximalen wöchentlichen Arbeitszeit des Klägers einschließlich Bereitschaftsdienst von 48 Wochenstunden überstieg das dem Kläger gezahlte monatliche Entgelt i. H. v. 2.446,41 Euro brutto seinen gesetzlichen Mindestlohnanspruch i. H. v. 1.773,95 Euro brutto (208,7 Monatsstunden multipliziert mit dem zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden gesetzlichen Mindeststundenlohn von 8,50 Euro).
Die vom Kläger geleistete Arbeitszeit war aufgrund der tariflichen Pauschalierungsregelung des § 29 Abs. 7 DRK-RTV abgegolten. Zu der „regelmäßigen Arbeitszeit“ des Klägers im Sinne der Tarifnorm gehörten sowohl die Vollarbeit als auch der Bereitschaftsdienst. Die tarifliche Abgeltungsregelung des § 29 Abs. 7 DRK-RTV ist auch nicht nach § 3 Satz 1 MiLoG unwirksam. Danach sind Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, insoweit unwirksam. Die tarifliche Pauschalierungsregelung ist aber nach der Entscheidung des BAG keine Abrede, die den Mindestlohnanspruch als solchen begrenzt.
Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)
Konsequenzen
Der gesetzliche Mindestlohn beträgt seit dem 1.1.2017 je Zeitstunde 8,84 Euro (§ 1 Abs. 2 MiLoG), er steigt zum 1.1.2019 auf 9,19 Euro und zum 1.1.2020 auf 9,35 Euro. Zwar bezieht sich der Mindestlohnanspruch grundsätzlich nur auf tatsächlich geleistete Arbeitsstunden. Dazu zählt aber nach ständiger Rechtsprechung des BAG auch die Arbeitsbereitschaft (so bereits BAG, Urt. v. 29.6.2016 – 5 AZR 716/15, NZA 2016, S. 1332).
Zunächst kommt es für die Frage, ob dem Arbeitnehmer ein Differenzlohnanspruch aus gesetzlichem Mindestlohn zusteht, darauf an, ob der Arbeitnehmer aus seinem Arbeitsverhältnis eine Bruttovergütung erhalten hat, die seinen gesetzlichen Mindestlohnanspruch erreicht oder übersteigt. Dabei errechnet sich der gesetzliche Mindestlohnanspruch als Produkt aus der Anzahl der monatlich tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und dem gesetzlichen Mindeststundenlohn. Übersteigt danach das Bruttoentgelt des Arbeitnehmers seinen Mindestlohnanspruch, hat er nur dann einen Differenzanspruch, wenn er sich zusätzlich auf Leistungen berufen kann, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen. Alle Entgeltleistungen des Arbeitgebers dagegen, die auch die Erbringung der Arbeitsleistung honorieren, sind für die Erfüllung des Mindestlohns zu berücksichtigen.
Nach § 3 MiLoG ist der gesetzliche Anspruch auf den Mindestlohn unabdingbar. Das BAG hat hierzu in einem bisher nur als Pressemitteilung vorliegenden Urteil entschieden, dass individualvertragliche Ausschlussfristen in nach dem 1.1.2015 abgeschlossenen Arbeitsverträgen Mindestlohnansprüche ausdrücklich ausnehmen müssen. Andernfalls sind die Ausschlussklauseln unwirksam (BAG, Urt. v. 18.9.2018 – 9 AZR 162/18; für den Mindestlohn in der Pflegebranche bereits: BAG, Urt. v. 24.8.2016 – 5 AZR 703/15, AuA 4/17, S. 249). Wie die vorliegende Entscheidung des BAG zeigt, gilt die Unwirksamkeitsfolge nur für Abreden, die den Mindestlohnanspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG als solchen begrenzen. Pauschalierungsabreden, nach denen eine bestimmte Arbeitszeit mit dem Entgelt abgegolten ist, bleiben aber grundsätzlich zulässig (BAG v. 29.6.2016, a. a. O.).
Praxistipp
Der gesetzliche Mindestlohnanspruch bezieht sich nicht nur auf Vollarbeit, sondern auch auf Arbeitsbereitschaft. Ausschlussklauseln in Arbeitsverträgen sollten daraufhin durchgesehen werden, ob der gesetzliche Mindestlohnanspruch ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der Klausel herausgenommen wurde.
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