Mitbestimmung bei Versetzung innerhalb der Stadtgrenze

§§ 99; 95 Abs. 3; 101 BetrVG

Allein die Zuweisung von Arbeit an einem 12 km entfernten Betriebsteil innerhalb derselben politischen Gemeinde stellt die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereiches i.S. d. § 95 Abs. 3 BetrVG dar, die bei Überschreitung von einem Monat die Zustimmungspflicht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG auslöst. Dies gilt selbst dann, wenn sich weder die Arbeitsaufgabe noch die Verantwortung noch die Eingliederung in die Organisation ändern.

(Auszug aus den Leitsätzen des Gerichts)

LAG Nürnberg, Beschluss vom 10.5.2021 – 1TaBV3/21

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Bild: Haramis Kalfar/stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Arbeitgeberin unterhielt einen Servicebetrieb für das Klinikum Nürnberg. Dieses verteilt sich auf zwei Standorte auf Nürnberger Stadtgebiet, d. h.Nord und Süd. Die Arbeitgeberin teilte zwei Arbeitnehmer, die bislang am Standort Süd mit Kranken- und Warentransporten beschäftigt waren, für eine dreimonatige Tätigkeit am Standort Nord ein und einen vormals am Standort Nord Beschäftigten für den Standort Süd. Inhaltlich änderte sich an den Tätigkeiten der Arbeitnehmer nichts. Die Standorte liegen ca. 12km voneinander entfernt.

Die Zustimmung des Betriebsrats holte die Arbeitgeberin nicht ein. Dagegen wandte sich das Gremium und verlangte nach § 101 BetrVG die Aufhebung der Maßnahmen, da es sich um mitbestimmungspflichtige Versetzungen i.S. d. §§ 99, 95 Abs. 3 BetrVG handle, denn der räumliche Einsatzort ändere sich. Die Arbeitgeberin hielt die Entfernung zwischen den Standorten für unwesentlich, zumal beide innerhalb derselben politischen Gemeinde liegen. Das ArbG Nürnberg gab den Aufhebungsanträgen statt.

Entscheidung

Das LAG Nürnberg gab dem Betriebsrat recht und verpflichtete die Arbeitgeberin zur Aufhebung der Versetzungen nach § 101 BetrVG, die in Ausübung des arbeitgeberseitigen Weisungsrechts ohne Beteiligung bzw. Zustimmung des Betriebsrats erfolgte. Die Arbeitgeberin hatte den Beschäftigten einen „anderen Arbeitsbereich“ i.S. v. § 95 Abs. 3 BetrVG zugewiesen und zwar länger als einen Monat. „Arbeitsbereich“ sind

  • die Aufgabe und Verantwortung des Arbeitnehmers sowie
  • die Art seiner Tätigkeit und ihre Einordnung in den Arbeitsablauf des Betriebes.

Der Begriff ist räumlich und funktional zu verstehen. Er umfasst neben der Arbeitsleistung auch die Art der Tätigkeit und den gegebenen Platz in der betrieblichen Organisation. Um die Zuweisung eines „anderen“ Arbeitsbereichs handelt es sich, wenn sich das gesamte Bild der Tätigkeit des Arbeitnehmers so verändert hat, dass die neue Tätigkeit vom Standpunkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Beobachters nunmehr als eine „andere“ anzusehen ist. Dies kann sich auch aus einer Änderung des Arbeitsortes ergeben, kann mit einer Änderung der Stellung des Platzes des Arbeitnehmers innerhalb der betrieblichen Organisation durch Zuordnung zu einer anderen betrieblichen Einheit verbunden sein (BAG, Beschl. v. 29.9.2020 – 1 ABR 21/19, Rz. 24, NJW 2021, S. 806).

Zwar liegen hier keine relevanten Änderungen der Aufgaben oder Verantwortlichkeiten vor. Auf die Frage, ob eine Untergrenze für den Entzug oder die Änderung von Teiltätigkeiten anzusetzen ist und ob diese schon bei 20 %greifen würde (vgl. BAG, Beschl. v. 2.4.1996 – 1 AZR 743/95, NZA 1997, S. 112), kommt es daher nicht an. Es geht vorliegend nicht um den vollständigen Entzug einer Tätigkeit, sondern lediglich um eine Modifikation eines Teils der Tätigkeit, die für sich genommen das Gepräge der Tätigkeit nur unerheblich ändert. Auch Stellung und Platz der Arbeitnehmer innerhalb der betrieblichen Organisation im Servicebereich änderte sich nicht.

Aber allein die Entfernung von 12km zwischen dem bisherigen und dem neuen Arbeitsort verleiht der Tätigkeit ein anderes Gesamtgepräge. Dies ist kein „Bagatellfall“ mehr, da sich für die Beschäftigten erhebliche längere Anfahrtswege zwischen Wohnort und Einsatzort ergeben könnten. Die Lage innerhalb derselben politischen Gemeinde (vgl. BAG, Beschl. v. 27.6.2006 – 1 ABR 35/05: Verlagerung Abteilung um 3km in einer Stadt) ist dabei unerheblich.

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Konsequenzen

Diese Entscheidung belegt die Risiken, die sich bei der Ausübung des arbeitgeberseitigen Weisungsrechtes (§ 106 GewO) ergeben, insbesondere der Frage, ob dadurch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats ausgelöst werden, die Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Umsetzung sind. Das BAG hatte früher entschieden, dass die Zuweisung eines anderen Arbeitsortes 3km innerhalb einer politischen Gemeinde infolge einer Abteilungsverlagerung keine mitbestimmungspflichtige Versetzung darstellt (BAG, Beschl. v. 27.6.2006 – 1 ABR 35/05, NZA 2006, S. 1289; Fitting, § 99 BetrVG Rz. 144). In diesem Sonderfall werden sich kaum Widerspruchsmöglichkeiten des Betriebsrats nach § 99 Abs. 2Nr. 4 BetrVG ergeben.

Da das LAG Nürnberg mit seiner Entscheidung möglicherweise von der BAG-Rechtsprechung abgewichen ist, hat es die Revision zum BAG zugelassen. Unklar bleibt, ab welcher Entfernung zwischen altem und neuem Arbeitsort eine Versetzung der Zustimmung des Betriebsrats bedarf und ob die Stadtgrenzen überhaupt noch ein wesentlicher Aspekt sind.

Praxistipp

Arbeitgeber stecken in einem Dilemma: Leiten sie das Zustimmungsverfahren nach § 99 BetrVG ein, riskieren sie ggf. eine Verweigerung des Betriebsrats und ein gerichtliches Zustimmungsersetzungsverfahren nach §§ 99 Abs. 4, 100 BetrVG. Wird § 99 BetrVG ignoriert, droht ein vom Betriebsrat betriebenes Zwangsgeldverfahrens nach § 101 BetrVG zwecks Aufhebung der Maßnahme und die mitbestimmungswidrige Versetzung gegenüber den Arbeitnehmern wäre unwirksam, selbst wenn diese einverstanden sind (BAG, Beschl. v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, S. 893; Fitting § 99 BetrVG Rz. 283). Hier ist sorgfältig abzuwägen.

Volker Stück

Volker Stück
Rechtsanwalt, Lead Expert Labour Law & Mitbestimmung, BWI GmbH, Bonn
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Mitbestimmung bei Versetzung innerhalb der Stadtgrenze
Seite 57
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