Stufenweise Wiedereingliederung Schwerbehinderter
Problempunkt
Der schwerbehinderte Kläger ist bei der beklagten Stadt als Technischer Angestellter beschäftigt. Er war aufgrund einer schweren Erkrankung rund 18 Monate arbeitsunfähig. In diesem Zeitraum fand seine betriebsärztliche Untersuchung statt. Die Betriebsärztin hat daraufhin eine stufenweise Wiedereingliederung zur vorsichtigen Heranführung an die Arbeitsfähigkeit mit bestimmten Einschränkungen in der Tätigkeit befürwortet. Der behandelnde Arzt des Klägers hat sodann einen Wiedereingliederungsplan erarbeitet, der keine Einschränkungen in der zu leistenden Tätigkeit vorsah.
Darauf fußend beantragte der Kläger bei der beklagten Stadt die stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Die Beklagte lehnte diesen Wiedereingliederungsplan ab, da diesem die zuvor festgestellten betriebsärztlichen Bedenken entgegenstehen würden. Ein Einsatz des Klägers im bisherigen Tätigkeitsbereich sei ohne die Berücksichtigung der aufgeführten Einschränkungen nicht möglich. Aufgrund der Ablehnung durch die Beklagte legte der Kläger später einen zweiten Wiedereingliederungsplan vor. Diesem lag ein Bericht der behandelnden Psychologin bei, wonach Einschränkungen in der Tätigkeit nicht mehr bestehen würden. Die Beklagte stimmte nach nunmehr positiver Beurteilung durch die Betriebsärztin dem zweiten Wiedereingliederungsplan zu. Im Anschluss an die erfolgreiche Wiedereingliederung erlangte der Kläger seine volle Arbeitsfähigkeit wieder.
Der Kläger fordert mit seiner Klage den Ersatz der Vergütung, die ihm dadurch entgangen ist, dass die Beklagte ihn nicht entsprechend den Vorgaben des ersten Wiedereingliederungsplans beschäftigt hat, weshalb er länger arbeitsunfähig krank gewesen sei.
Entscheidung
Das BAG hat das der Klage stattgebende Berufungsurteil aufgehoben. Die Beklagte ist nicht verpflichtet gewesen, den Kläger entsprechend den Vorgaben des ersten Wiedereingliederungsplans zu beschäftigen. Zwar kann der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung verpflichtet sein, an einer Maßnahme der stufenweisen Wiedereingliederung derart mitzuwirken, dass er den Beschäftigten entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans beschäftigt. Im hiesigen Fall lagen allerdings besondere Umstände vor, aufgrund derer die beklagte Stadt ihre Zustimmung zum ersten Wiedereingliederungsplan verweigern durfte. Dies hat sich aus den betriebsärztlichen Feststellungen ergeben. Danach bestand die begründete Befürchtung, dass der Gesundheitszustand des Klägers eine Beschäftigung entsprechend dem ersten Wiedereingliederungsplan nicht zulassen würde, da dieser keinerlei Einschränkungen in der Tätigkeit beinhaltet hat. Die daraus erwachsenen begründeten Zweifel an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans ließen sich auch nicht bis zum vorgesehenen Beginn der Maßnahme ausräumen.
Konsequenzen
Die Entscheidung stellt klar, wie öffentliche Arbeitgeber im Falle voneinander abweichender ärztlicher Stellungnahmen im Rahmen einer beabsichtigten Wiedereingliederung zu verfahren haben.
Grundsätzlich bleibt es dabei, dass eine seitens des behandelnden Arztes des Arbeitnehmers vorgeschlagene Wiedereingliederung auch durchzuführen ist, wenn der betroffene Mitarbeiter dies beantragt. Dem können jedoch besondere Umstände entgegenstehen. Wann das der Fall ist, muss einzelfallbezogen beurteilt werden. Oftmals streiten die Arbeitsvertragsparteien über die betrieblichen Erfordernisse und tatsächlichen Möglichkeiten für eine konkrete Eingliederungsmaßnahme. Im hier zu entscheidenden Fall geht es um die Fragestellung, wie mit abweichenden (fach-)ärztlichen Einschätzungen umzugehen ist.
Das BAG erkennt darin besondere Umstände, die eine Ablehnungsentscheidung des Arbeitgebers rechtfertigen können. Liegen betriebsärztliche Einschätzungen vor, die dem konkreten Wiedereingliederungsplan entgegenstehen, kann die Wiedereingliederung verweigert werden. Das gilt aber nur solange, bis der Arbeitgeber die entgegenstehenden Einschätzungen ausräumen kann.
Den Ausführungen des 8. Senats des BAG ist in der Begründung und im Ergebnis zuzustimmen. Das Urteil fußt auf der gesetzgeberischen Wertung und spiegelt das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Gesetzes wider.
Praxistipp
Gleichwohl bleiben die praktischen Schwierigkeiten für öffentliche Arbeitgeber teilweise bestehen. Diese liegen im Tatsächlichen. Unterschiedliche ärztliche Bewertungen und Stellungnahmen hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit und zur Möglichkeit der Wiedererlangung derselben sind keine Seltenheit. Deshalb wird auch zukünftig im Einzelfall zu bewerten sein, ob arbeitgeberseitige ärztliche Erkenntnisse einem Wiedereingliederungsantrag entgegenstehen.Das BAG hat die rechtlichen Leitplanken für die entsprechende Entscheidungsfindung gesetzt. Daran haben sich die öffentlichen Arbeitgeber auch zukünftig zu orientieren. Zwar ist die vorliegende Entscheidung zum alten Recht ergangen. In § 164 IV SGB IX besteht die alte Rechtslage jedoch inhaltlich unverändert fort. Das Urteil ist folglich uneingeschränkt aktuell.
Prof. Dr. Tim Jesgarzewski
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