Abfindung der im Insolvenzverfahren erdienten Anwartschaften

Der Insolvenzverwalter kann Versorgungsanwartschaften, die Arbeitnehmer während des Insolvenzverfahrens erworben haben, abfinden, wenn das Unternehmen die Betriebstätigkeit vollständig eingestellt hat und liquidiert wird. Hierfür reicht es aus, wenn es selbst keine gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeiten mehr entfaltet. Dass Teile im Wege des Betriebsübergangs auf einen Erwerber übergegangen sind, ist unerheblich.

(Leitsatz der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 814/07

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger hatte eine Zusage auf Betriebsrente erhalten. Sein Arbeitgeber fiel 2002 in die Insolvenz. Zum Insolvenzverwalter wurde der Beklagte bestellt. Dieser führte den Betrieb zunächst fort, verkaufte das Anlagevermögen dann aber Anfang Dezember 2004 mit Wirkung zu Januar 2005 an einen Erwerber. Dieser führte den Betrieb weiter und übernahm den Großteil der Arbeitnehmer. Der Kläger schied dagegen Ende Dezember 2004 aus dem Arbeitsverhältnis aus. Der Beklagte teilte ihm im Januar 2006 mit, er werde den Anteil seiner Anwartschaft auf monatliche Betriebsrente, den er während des Insolvenzverfahrens erdient hat, durch einen einmaligen Geldbetrag abfinden. Der Kläger war hiermit nicht einverstanden und klagte. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt, das LAG wies sie ab.

Entscheidung

Das BAG sah die Abfindung der Versorgungsanwartschaft durch den Beklagten als wirksam an und wies die Klage ab. Nach § 3 Abs. 4 BetrAVG kann der Insolvenzverwalter den Teil einer Anwartschaft auf Betriebsrente, den ein Arbeitnehmer während eines Insolvenzverfahrens erdient hat, ohne dessen Zustimmung abfinden, wenn das Unternehmen die Betriebstätigkeit vollständig eingestellt hat und liquidiert wird. Das BAG musste nun erstmals entscheiden, ob eine vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit auch vorliegt, wenn der insolvente Betrieb auf einen Erwerber übergeht. Dies bejahte es, da der ehemalige Arbeitgeber des Klägers selbst keine gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeiten mehr entfaltete. Dies reichte nach Ansicht des Gerichts als vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit aus.

Daran änderte auch der Betriebsübergang nichts. Zwar hat das BAG zu § 613a BGB den Grundsatz entwickelt, dass Betriebsübergang und Betriebsstilllegung sich gegenseitig ausschließen. Dies lässt sich jedoch nicht auf § 3 Abs. 4 BetrAVG übertragen, da beide Normen völlig unterschiedliche Zwecke verfolgen. § 613a BGB soll bei einem Betriebsübergang die Arbeitnehmer schützen, indem er sicherstellt, dass die Arbeitsplätze fortbestehen. § 3 Abs. 4 BetrAVG hingegen will die Gläubiger des insolventen Unternehmens schützen, indem er es erleichtert, ein Unternehmen im Insolvenzverfahren zu liquidieren und das schuldnerische Vermögen zu verwerten. Hierfür ist es aber unerheblich, ob ein Betrieb stillgelegt oder auf ein Nachfolgeunternehmen übertragen wird. Entscheidend ist vielmehr, dass – egal ob durch sanierende Übertragung oder Betriebsstilllegung – das insolvente Unternehmen jegliche gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit einstellt.

Als unschädlich sah es das BAG an, dass der Kläger bereits Ende Dezember 2004 aus dem Unternehmen ausgeschieden war und dieses erst danach seine Betriebstätigkeit vollständig einstellte. Dem Wortlaut und Normzweck des § 3 Abs. 4 BetrAVG nach ist es ausreichend, wenn ein enger sachlicher Zusammenhang mit der vollständigen Einstellung der Betriebstätigkeit besteht und die Abfindung Teil der Liquidationsmaßnahme ist. Dies war hier gegeben.

Schließlich stellte das BAG klar, dass sich das Recht, eine Versorgungsanwartschaft nach § 3 Abs. 4 BetrAVG abzufinden, nicht auf Bagatellanwartschaften beschränkt. Zwar ist dies außerhalb eines Insolvenzverfahrens der Fall. Dort soll der Arbeitgeber nur die Möglichkeit haben, einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, indem er geringwertige Anwartschaften abfindet. Auf die in § 3 Abs. 4 BetrAVG geregelte Abfindung im Insolvenzverfahren lassen sich die Bagatellgrenzen jedoch nicht übertragen. Dies würde dem Zweck zuwiderlaufen, die Liquidation eines Unternehmens im Insolvenzverfahren zu erleichtern.

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Konsequenzen

Das Recht, während der Insolvenz erdiente Versorgungsanwartschaften abzufinden, auch wenn eine sanierende Übertragung zu einem Betriebsübergang führt, erweitert die Optionen für den Insolvenzverwalter. Hätte das BAG diese Möglichkeit verneint, hätte er zunächst sämtliche Betriebsrenten abschließend auszahlen müssen, um das Unternehmen liquidieren und die Masse an die Gläubiger verteilen zu können. Dadurch wären sanierende Übertragungen, bei denen zwar nicht der bisherige Unternehmensträger saniert wird, jedoch Teile des bisherigen Betriebs – und damit auch Arbeitsplätze – erhalten bleiben, weniger attraktiv geworden. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Anwartschaften, die Mitarbeiter bis zur Insolvenzeröffnung erworben haben, Insolvenzforderungen sind. Für gesetzlich unverfallbare Anwartschaften tritt allerdings i. d. R. der Pensions- Sicherungs-Verein ein.

Praxistipp

Die Entscheidung ist vor allem für Insolvenzverwalter relevant. Sie sollten genau prüfen, ob, und falls ja, in welchem Umfang sie Anwartschaften, die Beschäftigte während des Insolvenzverfahrens erworben haben, abfinden können.

RAin und FAin für Arbeitsrecht Dr. Ann-Christine Hamisch, M.Jur. (Oxford), München

Redaktion (allg.)

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