BAG sorgt für Klarheit bei Massenentlassungen
Problempunkt
Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG müssen Arbeitgeber der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige erstatten, bevor sie innerhalb von 30 Kalendertagen eine bestimmte - im Gesetz jeweils näher definierte - Anzahl von Arbeitnehmern entlassen. Die maßgeblichen Schwellenwerte sind dabei abhängig von der Betriebsgröße.
Als Entlassung im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG galt nach der ständigen Rechtsprechung des BAG bisher der Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitverhältnisses. Die Anzeige an die Agentur für Arbeit musste daher rechtzeitig vor Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist erfolgen, konnte aber auch noch nach Ausspruch der Kündigung vorgenommen werden. Der EuGH hat in der Rechtssache "Junk" (Urt. v. 27.1.2005 - Rs. C-188/03) nun allerdings entschieden, dass als Entlassung im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) der Ausspruch der Kündigung durch den Arbeitgeber anzusehen sei.
Die "Junk"-Entscheidung - mit ihrer von der ständigen Rechtsprechung des BAG abweichenden Auslegung des Entlassungsbegriffs - hat nicht nur zu kontroversen Diskussionen in der juristischen Literatur und den Instanzgerichten, sondern insbesondere auch zu einer erheblichen Verunsicherung auf Seiten von Unternehmen darüber geführt, wie künftig bei Massenentlassungen zu verfahren sei.
Entscheidung
Der zweite Senat des BAG hat mit seiner Entscheidung vom 23.3.2006 nun für Klarheit hinsichtlich der zukünftigen Vorgehensweise bei Massenentlassungen gesorgt.
Dabei ist der Senat grundsätzlich der "Junk"-Entscheidung des EuGH gefolgt und hat entschieden, dass unter dem Begriff der Entlassung im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG - in Abkehr von seiner eigenen bisherigen ständigen Rechtsprechung - der Ausspruch der Kündigung (und nicht mehr die Beendigung des Arbeitverhältnisses) anzusehen ist. Allerdings gewährt der Senat betroffenen Arbeitgebern Vertrauensschutz.
Zur Begründung führt der Senat aus, § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG könne richtlinienkonform - also in Übereinstimmung mit der Massenentlassungsrichtlinie - ausgelegt werden (auch wenn der Senat selbst dies bisher nicht angenommen habe). Folglich sei maßgeblicher Zeitpunkt, vor welchem eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erstattet werden müsse, nicht - wie bisher vertreten - die Beendigung der Arbeitverhältnisse, sondern der Ausspruch der Kündigung.
Im konkreten Fall wollte der zweite Senat die Kündigung - bei welcher die Massenentlassungsanzeige in Übereinstimmung mit der bisherigen ständigen Rechtsprechung des BAG vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses, aber erst nach Ausspruch der Kündigung erstattet worden war - dennoch nicht als unwirksam ansehen und gewährte dem betroffenen Unternehmen Vertrauensschutz. Hierzu führte der Senat aus, einem kündigenden Arbeitgeber dürften nicht rückwirkend Handlungspflichten auferlegt werden, mit welchen er nicht zu rechnen brauchte und welche er nachträglich nicht mehr erfüllen könne. Bislang hätten Unternehmen - aufgrund der bisherigen ständigen Rechtsprechung, welche auch von der herrschenden Literatur gestützt und von der Verwaltungspraxis widergespiegelt wurde - darauf vertrauen dürfen, dass eine rechtzeitige Massenentlassungsanzeige vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausreichend war; Arbeitgeber mussten somit nicht erwarten, dass eine Kündigung als unwirksam (oder als nicht vollziehbar) qualifiziert werden würde, weil vor ihrem Ausspruch kein Massenentlassungsverfahren durchgeführt worden war. Dieses Vertrauen soll nach Ansicht des Senats frühestens mit der Bekanntgabe der "Junk"-Entscheidung des EuGH entfallen sein.
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Konsequenzen
Bislang konnten Unternehmen im Rahmen einer Massenentlassung eine Kündigung aussprechen, sobald der Betriebsrat nach § 102 BetrVG zur Kündigung angehört worden war. Künftig muss vor dem Ausspruch die Massenentlassungsanzeige vorgenommen werden; zudem ist auch das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG nun bereits zuvor durchzuführen.
Selbstverständlich ändert sich mit der neuen Auslegung des Entlassungsbegriffs auch die Feststellung, wann überhaupt eine Massenentlassung vorliegt: Entscheidend hierfür ist in Zukunft, ob die Anzahl der innerhalb von 30 Kalendertagen ausgesprochenen Kündigungen die gesetzlichen Schwellenwerte überschreitet.
Praxistipp
Die Durchführung von Massenentlassungen wird sich in Zukunft unter Umständen langwieriger gestalten als bisher. Ihre Gestaltung sollte daher sorgfältig geplant werden, um zu vermeiden, dass Kündigungen erst zu einem späteren Termin als geplant ausgesprochen werden können und so für den Arbeitgeber ungewollte Zusatzkosten (in Form von zusätzlich zu zahlenden Monatsgehältern) anfallen. Allerdings könnten sich für Arbeitgeber zukünftig - durch geschicktes Ausnutzen gestaffelter Kündigungsfristen - auch Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung einer Massenentlassung ergeben.
RAin Dr. Ann-Christine Hamisch, M.Jur. (Oxford), Lovells, München
Redaktion (allg.)
· Artikel im Heft ·
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