Diskriminierung Jüngerer durch kürzere Kündigungsfristen?

1. Dem Gesetzgeber steht bei der Entscheidung, ob, auf welche Weise und ab welchem Alter (Stichtag) er älteren Arbeitnehmern erhöhten Bestandsschutz gewährt, eine Einschätzungsprärogative und ein weiter Spielraum politischen Ermessens zu.

2. Die Nichtberücksichtigung der bis zum vollendeten 25. Lebensjahr verbrachten Beschäftigungszeiten für die Länge der Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB wirkt sich als Schlechterstellung der jüngeren Mitarbeiter gegenüber älteren Beschäftigten aus. Die Vorschrift widerspricht daher dem gemeinschaftsrechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung.
(Leitsätze des Bearbeiters)

LAG Düsseldorf, Beschluss vom 21. November 2007 - 12 Sa 1311/07 § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB

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Bild: Семен-Саливанчук / stock.adobe.com
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Problempunkt

Eine 29-jährige Arbeitnehmerin war seit Juni 1996 bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Wegen Betriebsstilllegung kündigte diese im Dezember 2006 das Arbeitsverhältnis mit Termin Ende Januar 2007.

Die Mitarbeiterin klagte gegen die Kündigungen und machte geltend, die Beklagte hätte sie erst für Ende April 2007 kündigen dürfen. Die Arbeitgeberin hatte sich dagegen auf § 622 Abs. 2 BGB berufen. Er sieht für ordentliche Kündigungen die stufenweise Verlängerung der Kündigungsfristen in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer vor, wobei allerdings Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahrs unberücksichtigt bleiben. Die Anwendung dieser Vorschrift hatte für die Klägerin zur Folge, dass die Kündigung bereits zum 31.1. und nicht erst zum 30.4.2007 wirkte.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits kam es also darauf an, ob die Beschäftigungszeiten der Arbeitnehmerin vor Vollendung des 25. Lebensjahrs bei der Kündigungsfrist entgegen der klaren Regelung in § 622 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen waren oder nicht. Oder mit anderen Worten: Es ging um die Frage, ob die Nichtberücksichtigung dieser Beschäftigungszeiten nach dem deutschen Recht mit europäischem Recht vereinbar ist oder nicht. Aus diesem Grund legt das Gericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

> Verstößt eine nationale Gesetzesregelung, nach der sich die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündigungsfristen mit zunehmender Dauer der Beschäftigung stufenweise verlängern, hierbei jedoch vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers unberücksichtigt bleiben, gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, namentlich gegen Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft oder die Richtlinien 2000/78/EG vom 27.11.2000?

> Rechtfertigt ein betriebliches Interesse des Arbeitgebers an personalwirtschaftlicher Flexibilität einen geringeren Bestandsschutz für jüngere Mitarbeiter?

> Hat das Gericht eines Mitgliedsstaats in einem Rechtsstreit unter Privaten, die dem Gemeinschaftsrecht explizit entgegenstehende Gesetzesregelung unangewendet zu lassen oder ist dem Vertrauen der Normunterworfenen dahingehend Rechnung zu tragen, dass die Unanwendbarkeitsfolge erst nach Vorliegen einer Entscheidung des EuGH eintritt?

 

Entscheidung

Das LAG Düsseldorf führte aus, dass nach nationalem Recht die Klage abzuweisen wäre. Die Arbeitgeberin hat die Grundkündigungsfrist nach § 622 Abs. 1 BGB eingehalten. § 622 Abs. 2 BGB ist nach seinem Wortlaut nicht auslegungsfähig. Auch § 2 Abs. 4 BGB bestimmt, dass für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten. Hierzu gehört insbesondere auch § 622 Abs. 2 BGB.

Die nationalen Gerichte sind nach Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an Recht und Gesetz gebunden. Das bedeutet, sie müssen geltende Vorschriften anwenden. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist unzulässig, wenn das Gericht lediglich Zweifel hat, ob eine Norm verfassungsmäßig ist. Dies war hier der Fall, da das LAG Düsseldorf von der Verfassungswidrigkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht überzeugt ist. Zwar widerspricht die Regelung nach seiner Auffassung dem gemeinschaftsrechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung. Das Gericht neigt aber der Auffassung zu, dass die Richtlinie 2000/78 keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Anders als das LAG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 24.7.2007 - 7 Sa 561/07, AuA 1/08, S. 50 f.) versteht das LAG Düsseldorf das Urteil des EuGH vom 22.11.2005 (C-144/04, vgl. AuA 2/06, S. 115 f.) in der Rechtssache Mangold nicht so, dass es den nationalen Gerichten die Befugnis erteilt, sich bei der Annahme von Primärrecht über entgegenstehende nationale Regelungen hinwegsetzen zu dürfen. Das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG wird - wenn es um die einheitliche Anwendung oder Nichtanwendung von Gesetzesrecht geht - durch die dem Bundesverfassungsgericht zugewiesene Normverwerfungskompetenz gesichert. Auf dieser Linie liegt es, die Sicherstellung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dem EuGH zuzuweisen, wenn es um den wirksamen Schutz und die Durchsetzung gemeinschaftlicher Grundrechte geht.

 

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Konsequenzen

In der Sache selbst birgt die Entscheidung des LAG Düsseldorf keine Überraschung. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB erkennt Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr für die Dauer der Kündigungsfrist nicht an. Insofern beschränkt sich der Zweck der Regelung darauf, jüngeren Arbeitnehmern den Vorteil der verlängerten Kündigungsfrist vorzuenthalten. Unter Experten bestehen kaum Zweifel, dass der EuGH die Europarechtswidrigkeit der Vorschrift feststellen wird. Dies führt zu einer Verlängerung der Kündigungsfristen für jüngere Mitarbeiter.

Viel spannender ist die letzte Frage des LAG Düsseldorf an den EuGH. Es geht um die Reichweite und Auslegung seiner viel kritisierten Entscheidung in der Rechtssache Mangold. Sollte der EuGH tatsächlich die Auffassung vertreten, jedes Gericht könne eine nationale Norm bei behauptetem Verstoß gegen europäisches Primärrecht außer Acht lassen, hätte dies weit reichende Auswirkungen. Dem durch ein geordnetes Rechtsprechungsverfahren gewährleisteten Rechtsfrieden wäre damit ein schlechter Dienst erwiesen.

Praxistipp

Risikoaverse Arbeitgeber sollten ab sofort für die Berechnung der Kündigungsfrist auch Dienstzeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahrs berücksichtigen. Wer sich bis zu einer endgültigen Entscheidung des EuGH an die formale Gesetzeslage hält, muss sich bewusst sein, dass die Aussichten, in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren mit diesem Standpunkt durchzudringen, nicht sehr hoch sind.

RA Dr. Hans-Peter Löw, Lovells LLP, Frankfurt

Redaktion (allg.)

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