Massenentlassung: Chemnitz gegen Luxemburg

1. Auch nach der anders lautenden Entscheidung des EuGH hinsichtlich des Zeitpunkts der Anzeige einer Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit bezeichnet der Begriff der "Entlassung" in § 17 KSchG die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht den Ausspruch der Kündigung. Dies entspricht der gegenwärtigen Rechtslage.

2. Eine unter Umständen nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie entfaltet ihre unmittelbare Geltung im Verhältnis zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen, nicht jedoch im Verhältnis Privater untereinander.
(Leitsätze des Bearbeiters)

Sächsisches LAG, Urteil vom 9. November 2005 - 2 Sa 159/05 Art. 2 - 4 Richtlinie 98/59/EG, §§ 17, 18 KSchG

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Bild: Stefan-Yang / stock.adobe.com
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Problempunkt

Die Parteien streiten über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung wegen dringender betrieblicher Erfordernisse. Nach Ansicht des Klägers verstößt die Kündigung gegen die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen ("Massenentlassungs-Richtlinie")und ist daher unwirksam.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Entscheidung vom 17.1.2004 (C-188/03, "Junk") zur Auslegung der Art. 2 bis 4 der Richtlinie festgestellt, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers als Entlassung i.d.S. gelte. Damit bezeichne "Entlassung" nicht das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf der Kündigungsfrist, sondern den Ausspruch der Kündigung. Somit kann nach Ansicht des EuGH die Kündigung erst dann erfolgen, wenn der Arbeitgeber die laut Richtlinie bei Massenentlassungen bestehende Anzeigepflicht zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung erfüllt hat und das zwingend vorgeschriebene Konsultationsverfahren mit einem ggf. bestehenden Betriebsrat abgeschlossen wurde (vgl. § 17 KSchG). Die Massenentlassungsanzeige sei vorliegend von der Beklagten erst mehr als drei Monate nach Zugang der Kündigung beim Kläger vorgenommen worden.

Die Beklagte macht geltend, die Anzeige sei unter Beachtung der jahrzehntelang geübten Rechtsprechung des BAG sowie unter Berücksichtigung der ständigen Praxis der Arbeitsverwaltung nach Wirksamwerden der Kündigungserklärung und vor Ablauf der Kündigungsfrist erfolgt. Die abweichende Entscheidung des EuGH sei unvorhersehbar gewesen. Zudem habe sich die Arbeitgeberin einige Tage vor Ausspruch der Kündigung mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Verbindung gesetzt, um die Anzeige abzustimmen. Hierbei sei sie dahingehend belehrt worden, mit dem Begriff der Massenentlassung in § 17 Abs. 1 KSchG sei nicht die Kündigungserklärung, sondern der Ablauf der Kündigungsfrist gemeint.

 

Entscheidung

Das LAG betont die ständige und gefestigte Rechtsprechung des BAG, unter "Entlassung" i.S.v. § 17 KSchG die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung zu verstehen. Diese sei vom BAG auch in Kenntnis der EuGH-Entscheidung vom 17.1.2004 fortgeführt worden. Danach sei "Entlassung" i.S.d. § 17 KSchG eben nicht gleichbedeutend mit "Kündigung" oder "Kündigungserklärung". Ein der Richtlinie 98/59/EG in der Auslegung des EuGH entsprechendes Verständnis der Norm sei wegen des nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte eindeutigen Inhalts auch im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht möglich. Dies bedeute zwar im Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber eine europäische Richtlinie möglicherweise nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe. Jedoch komme eine dadurch bedingte unmittelbare Geltung und ein darauf beruhender Anwendungsvorrang der Richtlinie nur vertikal zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen, nicht jedoch horizontal im Verhältnis Privater untereinander in Betracht. Deshalb könne sich der Kläger gegenüber dem Arbeitgeber nicht auf die Richtlinie in der Auslegung des EuGH berufen.

Anderes würde sich nach Ansicht der Chemnitzer Richter selbst dann nicht ergeben, wenn seit der EuGH-Entscheidung unter "Entlassung" nicht mehr die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung, sondern der Ausspruch der Kündigung zu verstehen wäre. Wollte das BAG dem folgen, setzte dies eine Änderung der langjährigen höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus. Zwar wirke auch die Änderung einer derartigen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, allerdings nur, soweit die Grundsätze von Treu und Glauben nicht entgegenstünden. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung sei dann geboten, wenn - wie vorliegend - die betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der neuen Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall auch unter Berücksichtigung berechtigter Interessen der Gegenpartei eine unzumutbare Härte bedeute.

 

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Konsequenzen

Nach der Massenentlassungs-Richtlinie in der Interpretation des EuGH und bei entsprechender richtlinienkonformer Auslegung des § 17 KSchG wären Arbeitgeber gehalten, vor Ausspruch der Kündigung die Anzeige gegenüber der BA zu erstatten und das Beteiligungsverfahren mit dem Betriebsrat bis zu diesem Zeitpunkt abzuschließen. Bei Nichtbeachtung dieser Vorgaben riskierte der Unternehmer, dass die Arbeitsgerichte die Unwirksamkeit der Kündigung und das Fortbestehen der Arbeitsverhältnisse feststellten. Damit wäre er gezwungen, seinen Mitarbeitern erneut zu kündigen und die Vergütung bis zum Ablauf der neuen Kündigungsfrist fortzuzahlen.

Allerdings ist die gegenwärtige Rechtslage, worauf das SächsLAG zutreffend hinweist, (noch) eine andere. Denn die deutsche Regelung zur Umsetzung der Massenentlassungs-Richtlinie in den §§ 17, 18 KSchG stellt einerseits hinsichtlich des maßgeblichen Anzeigezeitpunkts mit dem Begriff der "Entlassung" auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf der Kündigungsfrist und gerade nicht - wie der EuGH - auf die Abgabe der Kündigungserklärung ab (vgl. § 17 Abs. 1 KSchG). Andererseits enthält § 18 Abs. 1 KSchG gerade keine Regelung der Unwirksamkeit der Kündigungserklärung, sondern schiebt das Wirksamwerden der Kündigung und damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den Fall einer unterlassenen oder verzögerten Anzeige lediglich um einen Monat hinaus, sofern nicht die BA einer früheren Wirksamkeit zustimmt ("gesetzliche Wirksamkeitssperre"). Da beide Regelungen insoweit eindeutig sind und eine andere - richtlinienkonforme - Auslegung deshalb nicht möglich ist, bleibt (zunächst) alles beim Alten: Der Arbeitgeber hat weiterhin die Massenentlassung bei der BA bis zum Zeitpunkt der Beendigung der Arbeitsverhältnisse mit Ablauf der Kündigungsfristen anzuzeigen und ein Konsultationsverfahren mit der Arbeitnehmervertretung bis dahin abzuschließen. Eine verspätete Anzeige führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, sondern verschiebt lediglich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Praxistipp

Arbeitgeber, die eine Massenentlassung i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG beabsichtigen, sollten sich darauf einstellen, dass sich die bisher gleich gebliebene Rechtslage in nächster Zeit ändern kann. Einerseits scheint es nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber versucht, die Richtlinie erneut i.S.d. EuGH-Urteils umzusetzen und die entsprechenden Regelungen zu Lasten der Unternehmen neu fasst. Denn der Bund läuft Gefahr, dass sich betroffene Arbeitnehmer ihm gegenüber vor Gericht auf die begünstigenden Regelungen der Richtlinie berufen und auf dieser Grundlage Schadensersatz wegen unvollständiger Umsetzung zugesprochen bekommen (sog. vertikale Drittwirkung der Richtlinie). Andererseits ist auch nicht auszuschließen, dass das BAG - anders als das SächsLAG - doch noch eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17, 18 KSchG in der vom EuGH vorgegebenen Weise bejaht und seine bisherige Rechtsprechung dahin gehend ändert. Für diesen Fall böten die Regeln zur Einschränkung der Rückwirkung einer solchen Rechtsprechungsänderung den Arbeitgebern nur sehr geringen Schutz.

Dr. Rüdiger Heinemann, Leipzig

Redaktion (allg.)

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