Präventionsverfahren und Kündigung
Problempunkt
Der Kläger ist mit einem Grad der Behinderung von 70 schwerbehindert. Er ist seit 1993 bei der Beklagten als Arbeiter beschäftigt. Vom 4. bis zum 13.11.2003 hatte er sich insgesamt mindestens 13,42 Stunden vor Ende der bezahlten Arbeitszeit von der Arbeitsstelle entfernt. Als die Beklagte hiervon erfuhr, hörte Sie den Personalrat zu einer Tatkündigung, hilfsweise Verdachtskündigung wegen Arbeitszeitbetrugs an. Dieser stimmte der ordentlichen Kündigung zu. Nach Zustimmung des Integrationsamts, gegen die der Kläger im Verwaltungsverfahren vorging, kündigte der Arbeitgeber ordentlich zum 30.9.2005. Mit seiner Klage machte der Kläger insbesondere geltend, die Kündigung sei wegen Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens vor ihrem Ausspruch unwirksam. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) und dem Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte er dagegen keinen Erfolg.
Entscheidung
Das BAG entschied, dass die Kündigung der Beklagten wirksam ist. Der Personalrat war ordnungsgemäß angehört worden und das Integrationsamt hatte vor Ausspruch nach § 85 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zugestimmt. Das LAG musste das Kündigungsschutzverfahren auch nicht nach § 148 Zivilprozessordnung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Klage vor dem Verwaltungsgericht über die Zustimmung aussetzen (BAG, Urt. v. 20.1.2000 - 2 AZR 378/99). Die Kündigung wegen Arbeitszeitbetrug war aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz). Einer vorherigen Abmahnung bedurfte es nicht. Obgleich die Daten aus dem Anwesenheitskontrollsystem nach der getroffenen Regelung nicht der Auswertung der Anwesenheitszeiten der Mitarbeiter dienten, durfte sich der Arbeitgeber auf diese stützten, weil der Personalrat der Verwendung und der darauf gestützten Kündigung zugestimmt hatte (vgl. BAG, Urt. v. 27.3.2003 - 2 AZR 51/02). Zudem betraf der Vorwurf des Arbeitgebers die Missachtung der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers zur Arbeit, nicht aber den kollektivrechtlichen Gehalt der betroffenen Norm. Der Kündigung stand nicht entgegen, dass die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung kein Präventionsverfahren durchgeführt hatte. Nach § 84 Abs.1 SGB IX sind Arbeitgeber beim Eintreten von Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit Schwerbehinderten zwar gehalten, ein näher bestimmtes Präventionsverfahren zur Ausräumung der Probleme durchzuführen. Dieses ist aber keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung. Die Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens kann das Gericht allenfalls im Rahmen der Bewertung des Kündigungsgrunds zu Lasten des Arbeitgebers berücksichtigen. Das gilt aber nur, wenn es geeignet gewesen wäre, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu beseitigen. Dies ist nicht der Fall, wenn die Pflichtverletzungen in keinem Zusammenhang mit der Behinderung stehen und die Durchführung eines Präventionsverfahrens von vornherein nicht erfolgversprechend war. Nach diesen Grundsätzen konnte die Beklagte im Streitfall - angesichts der Schwere der Pflichtverletzung des Klägers - hierauf verzichten.
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Konsequenzen
Dies ist die erste Entscheidung des BAG zum Präventionsverfahren bei schwerbehinderten Menschen bzw. Gleichgestellten. Sie schafft Klarheit: Wegen der Nichtdurchführung (allein) ist die Kündigung nicht unwirksam. Andererseits ist § 84 Abs. 1 SGB IX aber keine reine Ordnungsvorschrift mit bloßem Appellativcharakter und ohne jede Folgen. Die Regelung ist im Rahmen des Ultima-Ratio-Grundsatzes zu berücksichtigen. Danach ist die Kündigung nur erforderlich, wenn der Arbeitgeber sie nicht durch mildere Maßnahmen vermeiden kann (BAG, Urt. v. 12.1.2006 - 2 AZR 179/05). Eine Kündigung kann sozial ungerechtfertigt sein, sofern bei ordnungsgemäßer Durchführung des Präventionsverfahrens Möglichkeiten bestanden hätten, sie zu vermeiden. Umgekehrt steht das Unterbleiben des Präventionsverfahrens einer Kündigung nicht entgegen, wenn sie auch ohne dessen Durchführung nicht hätte verhindert werden können. Zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM, vgl. Hunold, AuA 7/05, S. 422) nach § 84 Abs. 2 SGB IX gilt nach einer aktuellen Entscheidung Entsprechendes (BAG, Urt. v. 12.7.2007 - 2 AZR 716/06).
Praxistipp
Insbesondere im Rahmen von personenbedingten Gründen (z.B. Krankheit, Low Performance) wirkt sich das Präventionsverfahren bzw. BEM kündigungsrechtlich aus. Hier ist der Arbeitgeber gut beraten, es ordnungsgemäß durchzuführen. Die Zustimmung des Integrationsamts, ohne die das Unternehmen einem Schwerbehinderten nicht wirksam kündigen kann, könnte im Übrigen eine „Heilung“ bewirken.
RA Volker Stück, Stuttgart
Redaktion (allg.)
· Artikel im Heft ·
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