Arbeitsunfähigkeit: Einheit des Verhinderungsfalls

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 Bild: Stockfotos-MG/stock.adobe.com
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Vor dem LAG Berlin-Brandenburg stritten die Parteien über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit vom 21.9.2020 bis 7.3.2021. Die Klägerin, 46 Jahre alt, ist als Filialgruppenleiterin mit einer monatlichen Vergütung von 6.000 Euro brutto beschäftigt und arbeitet üblicherweise von Montag bis Freitag. Seit November 2019 war sie durchgängig arbeitsunfähig erkrankt. Für die Zeit vom 10.8.2020 bis 18.9.2020 stellte die Fachärztin für Allgemeinmedizin eine leichte depressive Episode fest. Danach erkrankte die Klägerin jeweils für sechs Wochen an einer Rückenerkrankung, einer Nierenentzündung, einer Mittelohrentzündung und einer Gastritis. Sie suchte jeweils dieselbe Fachärztin für Allgemeinmedizin auf, die immer nach Ablauf von sechs Wochen ab Montag der Folgewoche eine „Erstbescheinigung“ für die neuerliche Erkrankung ausstellte. Der Arbeitgeber bestritt, dass es sich jeweils um Ersterkrankungen gehandelt habe. Das LAG vernahm die behandelnde Ärztin als Zeugin. Diese sagte, die Krankheitszeiten seien in die erste Coronaphase gefallen, in der sie ca. 900 Patienten je Quartal behandelt habe. Sie könne nicht mehr sagen, ob die jeweilige Ersterkrankung bereits beendet gewesen sei, als eine neue Erkrankung festgestellt wurde, denn sie untersuche üblicherweise nicht, ob die zuvor festgestellte Erkrankung ausgeheilt war, wenn es diesbezüglich keine Schilderungen der Patientin gibt.

Das LAG gab dem Unternehmen recht, da es von einem einheitlichen Verhinderungsfall ausgeht. Unstreitig ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit auf die Dauer von sechs Wochen begrenzt, wenn während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Ein einheitlicher Verhinderungsfall ist nach der Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 11.12.2019, Az. 5 AZR 505/18) regelmäßig indiziert, wenn zwischen einer ersten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und einer dem Arbeitnehmer im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierten weiteren Arbeitsunfähigkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Davon ist auszugehen, wenn die Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinander folgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt. So lag der Fall hier. Die vorhergehenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen endeten jeweils am Freitag, die nachfolgenden begannen jeweils am darauffolgenden Montag. Damit muss der Arbeitnehmer den vollen Beweis dafür erbringen, dass die vorhergehende Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt des Eintrittes einer neuerlichen Arbeitsverhinderung beendet war. Diesen Beweis konnte die Klägerin nicht erbringen, weil die behandelnde Ärztin die vorhergehende Erkrankung nicht untersucht hatte und aufgrund der zurückliegenden Zeit sich daran auch nicht mehr erinnern konnte. Das Gericht ließ die Revision zum BAG zu, die dort unter dem Az. 5 AZR 65/23 anhängig ist. Es stellt in Frage, ob die Rechtsprechung des BAG aufrechterhalten werden kann, weil diese in der Praxis dazu führen wird, dass ein Arbeitnehmer in aller Regel in einem Rechtsstreit unterliegen wird, weil die Untersuchungspraxis bei den Ärzten die insoweit relevante Fragestellung des Endes der vorhergehenden Erkrankung und des Beginns der nächsten Erkrankung nicht beinhaltet bzw. dies im Nachhinein nicht mehr feststellbar ist (LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.11.2022, Az. 10 Sa 1471/21).

Dr. Claudia Rid

Dr. Claudia Rid
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, CMS Hasche Sigle, München
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Arbeitsunfähigkeit: Einheit des Verhinderungsfalls
Seite 53
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