Der Vorrang der Weiterbeschäftigung bei der krankheitsbedingten Kündigung

Kristina Andrä, Lehmanns Media, 1. Auflage 2021, 156 Seiten, Preis: 19,95 Euro

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 Bild: Lehmanns Media
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Kristina Andrä hat mit ihrer Veröffentlichung, die zugleich als Dissertation bei Prof. Fischer gilt, eine sehr gute Zusammenfassung der Rechtsfragen zu Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Kontext der verschiedenen Ebenen der Verhältnismäßigkeit erstellt. Das Buch ist demnach klar als akademische Arbeit zu erkennen. Beim Lesen merkt man aber, die Autorin hatauch sehr wohl mit dem Auge der Praktikerin die einzelnen Streitfragen behandelt.

Die Arbeit führt systematisch über die einzelnen Prüfungsstufen der Rechtsprechung bis zum gern übersehenen Umstand einer möglichen Weiterbeschäftigung im Rahmen von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Hier für den allgemeinen Fall, dass diese Prüfung auch dann notwendig ist, wenn der Betriebsrat nach § 1 Abs. 1 Satz 2 oder 3 KSchG nicht wegen anderer Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb der Kündigung widersprochen hat.

§ 1 Abs. 1 Satz 2 oder 3 KSchG sind erst 1972 in das KSchG eingefügt worden. Die Arbeit leitet her, dass es sich dabei nicht um einen alternativen Prüfungsschritt handelt, sondern um eine Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Weiterbeschäftigung. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt darin herzuleiten, ob bei der Prüfung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit allen Teilprinzipien „legitimer Zweck“, „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und schließlich der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn Anwendung findet. Letzteres würde dann eine Rolle spielen, wenn die Weiterbeschäftigung zwar legitim, geeignet und erforderlich wäre, aber dem Arbeitgeber ein zu großes Opfer abverlangen würde und somit die Weiterbeschäftigung wieder außer Betracht bleiben müsste. Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass das BAG über den Begriff der „Zumutbarkeit“ der Weiterbeschäftigung für den Arbeitgeber eine Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn prüft, denn der Gesetzgeber bezweckte, dass willkürliche Kündigungen verhindert werden, aber bei Vorliegen triftiger Gründe für den Arbeitgeber zulässig und möglich sein müssen.

Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)

Auch die mögliche Spannung zwischen der Anwendbarkeit des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips, welches über den Begriff „bedingt“ immer Eingang in die Prüfung finden soll, und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn wird sauber aufgelöst. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit kann nämlich den Arbeitgeber übermäßig belasten und damit nicht verhältnismäßig im engeren Sinn sein, die Kündigung aber gleichwohl sozial nicht gerechtfertigt sein, weil bei der Abwägung von Auflösungsinteresse des Arbeitgebers und überwiegenden Bestandsinteressen der Arbeitnehmer Letztere vorrangig zu berücksichtigen sind.

Der weitere Schwerpunkt ist natürlich die umfassende Darstellung, um welchen Arbeitsplatz es sich handeln kann, auf dem die Arbeitnehmer weiterbeschäftigt werden könnten.

Alles in allem handelt es sich um eine intensive Bearbeitung des Themas mit einer akademischen Priorisierung, aber auch für den Praktiker eine Hilfe, wenn beurteilt werden soll, ob eine personenbedingte Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit tatsächlich Aussicht auf Erfolgt hat und der Arbeitgeber groß genug ist, dass sich möglicherweise alternative Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben.

Konrad Mallwitz

Rechtsanwalt, Unternehmensjurist, Chemnitz

· Artikel im Heft ·

Der Vorrang der Weiterbeschäftigung bei der krankheitsbedingten Kündigung
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