„Diversität steht neben Nachhaltigkeit ganz oben auf der Werteskala“

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 Bild: fidaolga/stock.adobe.com
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Vielfalt und Inklusion bringen Chancen und Herausforderungen für Arbeitgeber mit sich. Auch die Politik bezieht regelmäßig Stellung: „Wir lassen keinen zurück“, heißt es im Koalitionsvertrag. „Wenn des Nachbarn Haus brennt, helfen wir, ohne nach seiner Gesinnung zu fragen“, sagt Running Mate Tim Walz und erntet allenthalben Beifall. Was heißt das für Unternehmen?

Franzmann: Der Arbeitsmarkt wird infolge der demografischen Entwicklung und des Übergangs der Babyboomer in den Rentenstand zunehmend zu einem Arbeitnehmermarkt. Unternehmen werden im Wettbewerb um Köpfe nicht nur von ihrem wirtschaftlichen Ergebnis her betrachtet, sondern auch von ihren „Values“. Und Diversität steht neben Nachhaltigkeit ganz oben auf der Werteskala. Also keine Olympiamannschaft, sondern durch Vielfalt Stärke ausdrücken.

Lelley: Für Unternehmen bedeutet dies eine klare Aufforderung, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und Inklusion sowie Gemeinschaft nicht nur als ethische Verpflichtung, sondern auch als strategischen Vorteil zu begreifen. Ob wir uns wirklich zunehmend in einem Arbeitnehmermarkt bewegen, ja, daran habe ich gewisse Zweifel. Vor allen Dingen mit Blick darauf, dass ja aktuell Hunderte und Tausende von Arbeitsplätzen in traditionellen Hochbeschäftigungsbranchen wie Automotive oder Stahl verlorengehen.

Ist das Image von Unternehmen wirklich entscheidend bei der Wahl der Arbeitsstelle?

Franzmann: Arbeitsinhalt und Karriereweg sowie die Vergütung sind wahrscheinlich stets die Topprioritäten bei der Arbeitsplatzwahl. Aber der IT-Experte oder der Betriebswirt wird sowohl auf dem Schlachthof als auch bei einer NGO benötigt. Und wenn vergleichbare Arbeitsbedingungen angeboten werden, schmückt sich ein Arbeitnehmer regelmäßig sehr gerne mit dem Standing seines Unternehmens.

Lelley: Ja, das Image eines Unternehmens spielt eine immer größere Rolle bei der Wahl der Arbeitsstelle, insbesondere bei jüngeren Generationen. Arbeitnehmer suchen zunehmend nach Arbeitgebern, die nicht nur attraktive Vergütungspakete und Karrierechancen bieten, sondern auch für Werte, z.B. Nachhaltigkeit, gesellschaftliche Verantwortung, stehen. Interessanterweise gibt es aber auch sehr gegenteilige Feststellungen: nämlich, dass jungen Menschen ein so traditioneller Wert wie Arbeitsplatzsicherheit sehr wichtig sein soll. Vielleicht verständlich in unserer Zeit. Auf jeden Fall kann die Außenwirkung den entscheidenden Unterschied machen, wenn es darum geht, talentierte Fachkräfte zu gewinnen und langfristig zu binden.

Das wirft die nächsten Fragen auf,nämlich nach normativen Regeln. Zunächst: Braucht es diese angesichts der oben beschriebenen Einsichten und Notwendigkeiten?

Franzmann: Da spreche ich mal aus der Praxis: Mir sind mehr Betriebe bekannt, die die Ausgleichsabgabe nach §160 SGB IX zahlen als solche, die schwerbehinderte Menschen in überobligatorischer Zahl beschäftigen. Also ja, die Orientierung am kurzfristigen, ggf. quartalsgetriebenen Betriebsergebnis dominiert klar eher weiche Faktoren wie Vielfalt und Nachhaltigkeit.

Lelley: Auch wenn ich es mir anders wünsche, aber man muss es wohl sagen: Ohne klare gesetzliche Vorgaben besteht die Gefahr, dass die Umsetzung von Inklusionsmaßnahmen ins Hintertreffen gerät. Normative Regeln schaffen Rechtssicherheit und sorgen für Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und allgemein im Wettbewerb. Sie geben den Unternehmen Leitplanken an die Hand, innerhalb derer sie sich bewegen können, und verhindern, dass Maßnahmen zur Förderung von Inklusion und Integration zum Wettbewerbsnachteil werden. Der Ehrliche soll ja nicht der Dumme sein…

Welche zentralen gesetzlichen Vorgaben beschäftigen sich mit Vielfalt und Inklusion?

Franzmann: Zuvörderst ist das Neunte Buch Sozialgesetzbuch zu nennen, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Anliegen des Gesetzes ist die bevorzugte Einstellung schwerbehinderter Menschen, die Gestaltung ihrer Arbeitsumgebung sowie ein besonderer Schutz vor der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Das Gesetz stellt zudem finanzielle, personelle und sächliche Unterstützung zur Integration schwerbehinderter Menschen in Aussicht.

Lelley: Ich würde zwei Gesetze besonders hervorheben: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Das AGG zielt darauf ab, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Es bildet die Grundlage für einen diskriminierungsfreien Arbeitsmarkt.

Wie wirken sich diese Vorgaben in Ihrer praktischen Arbeit in den Betrieben aus? Welche Erfahrungen haben Sie hierbei gemacht?

Franzmann: Unternehmen aus der Privatwirtschaft suchen im Recruiting-Prozess nicht nach schwerbehinderten Menschen; oft ist es der Betriebsrat, der beim Einstellungsvorgang auf die Pflicht nach § 164 SGB IX hinweisen muss. Mir ist in meiner über 30-jährigen Praxis nicht untergekommen, dass Betriebe sächliche oder finanzielle Unterstützung zur Integration schwerbehinderter Menschen angefordert hätten. Und den erhöhten Kündigungsschutz nehme ich als Einstellungshemmnis bei den Arbeitgebern wahr. Also: Ich persönlich bin reichlich ernüchtert.

Das Buch geht auf die realen Arbeitssituationen, die im Umbruch sind, ein und zeigt sowohl arbeitsrechtliche Herausforderungen als auch erste, bereits in der Unternehmenspraxis umgesetzte Lösungsansätze auf.

Lelley: In meiner Praxis erlebe ich häufig, dass Unternehmen sich zwar der gesetzlichen Vorgaben bewusst sind, deren Umsetzung aber immer wieder Gefahr läuft, als bürokratische Pflichtübung betrachtet zu werden. Wie Herr Franzmann oben ja schon sagte: Es gibt leider Beispiele, in denen Unternehmen lieber eine Ausgleichsabgabe zahlen, anstatt die vorgeschriebene Quote von schwerbehinderten Mitarbeitern zu erfüllen. Die Gründe dafür sind vielfältig und finden sich vor allem beim fehlenden Wissen über Unterstützungsmöglichkeiten. Hier können wir also noch einiges machen.

Wenn gesetzliche Vorgaben nicht helfen, gibt es sonstige normative Spielregeln, die eine Integrationswirkung entfalten können?

Franzmann: Ja, ich bin ein großer Anhänger der in § 166 SGB IX normierten Inklusionsvereinbarung. Auf betrieblicher Ebene schließen der Arbeitgeber, der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung ein Abkommen, in dem Prozesse etabliert werden. Diese Prozesse beschäftigen sich mit dem Einstellungsvorgang und nehmen nach erfolgter Einstellung die von schwerbehinderten Menschen besetzten Arbeitsplätze in den Blick, und zwar regelmäßig nach festgelegten Zeitfenstern. Die Inklusionsvereinbarung benennt darüber hinaus verbindlich und belastbar Verantwortlichkeiten und schafft Transparenz für alle Beteiligten. Und unternimmt damit – um zum Ausgangspunkt zurückzukehren – zumindest den Versuch, keinen zurückzulassen.

Lelley: Neben gesetzlichen Vorgaben können normative Spielregeln, wie interne Unternehmensrichtlinien, Verhaltenskodizes und Branchenstandards, eine wichtige Integrationswirkung entfalten. Diese freiwilligen Maßnahmen fördern eine einheitliche Unternehmenskultur und erleichtern die Einhaltung ethischer und sozialer Standards. Besonders wirksam sind sie, wenn sie in den Arbeitsverträgen verankert und regelmäßig kommuniziert sowie durch Schulungen und Anreizsysteme unterstützt werden.

Überfordert es das einzelne Unternehmen nicht, neben der Produktion oder Erbringung einer Dienstleistung sozial- und gesellschaftspolitische Aufgabenstellungen zu bewältigen?

Franzmann: Tja, ich könnte zurückfragen, wenn nicht die Unternehmen, wer denn sonst? „It’s the economy, stupid!“, damit machte Bill Clinton Wahlkampf vor 30 Jahren, und wenn der Slogan heute noch gilt, dann ist der Wirtschaft, also dem Erwirtschaften, alles untergeordnet. Und dann können sich die Wirtschaftsakteure auch nicht aus ihrer Verantwortung im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Diversität stehlen.

Lelley: Unternehmen tragen zunehmend Verantwortung für soziale und gesellschaftspolitische Herausforderungen. Diese Aufgaben können komplex sein, jedoch bieten sie auch Chancen zur Differenzierung und Verbesserung der Arbeitgebermarke. Wichtig ist, diese Aufgaben im Einklang mit den Unternehmenszielen zu gestalten.

Armin Franzmann

Armin Franzmann
Fachanwalt für Arbeitsrecht
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· Artikel im Heft ·

„Diversität steht neben Nachhaltigkeit ganz oben auf der Werteskala“
Seite 30 bis 31
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