„Ein BGM ist weit mehr als nur ein ‚nice to have‘“

Wortwechsel
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 Bild: fidaolga/stock.adobe.com
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Aushängeschild oder notwendiges Übel? Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ist zumindest in Bezug auf Arbeitsschutz und Wiedereingliederungsmaßnahmen für Unternehmen verpflichtend. Darüber hinaus stehen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, um die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern. Stellenausschreibungen bei Porsche, SAP, BASF und Co. werben mit einem BGM. Ist das „nice to have“?

Franzmann: Die demografische Entwicklung der Gesellschaft mit dem Wechsel der Babyboomer in die Altersrente sorgt schon heute für einen enormen Fachkräftebedarf. Die Arbeitgeber, die noch bis in die Nullerjahre von einem Arbeitskräfteüberschuss profitierten, befinden sich zunehmend in einem War for Talents. Sie müssen Arbeitnehmende davon überzeugen, dass die Work-Life-Balance stimmt – und dazu gehört die Sensibilität für eine gute Arbeit im Sinne einer Arbeit, die Wertschätzung ausdrückt und Wohlbefinden in den Blick nimmt.

Lelley: Ein BGM ist weit mehr als nur ein „nice to have“. Es spielt eine entscheidende Rolle dabei, die Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern, was sich letztlich positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auswirkt. Es zeigt potenziellen Mitarbeitern, dass das Unternehmen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden ernst nimmt, was ein starkes Argument im Wettbewerb um Talente sein kann.

Ist das Erfordernis eines BGM fakultativ in das Belieben der Arbeitgeber gestellt oder gibt es gesetzlich normierte Vorgaben, die entsprechende Pflichten enthalten?

Franzmann: Ausgangsnorm meiner Überlegungen als Fachanwalt auf der Betriebsratsseite ist § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, also betriebspartnerschaftliche Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz zu vereinbaren. Flankiert wird diese Norm durch spezialgesetzliche Vorgaben, etwa das ArbSchG, das ASiG oder das ArbZG, sowie eine Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien, etwa die ArbStättV, die GefStoffV oder die LärmVibrationsArbSchV. Also nein, Betriebliches Gesundheitsmanagement gehört zum Pflichtenkatalog auf Arbeitgeberseite.

Lelley: Herr Franzmann hat natürlich recht: Es gibt natürlich gesetzliche Vorgaben, die Arbeitgeber zur Fürsorge und zum Schutz der Gesundheit ihrer Mitarbeiter verpflichten. Diese Gesetze fordern präventive Maßnahmen, um arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu minimieren. Das Arbeitsschutzgesetz und das Sozialgesetzbuch SGB VII setzen Rahmenbedingungen, die Arbeitgeber einhalten müssen – von den „uralten“ Vorgaben in §§ 617ff. BGB zum Gesundheitsschutz gar nicht zu reden. Diese Gesetze fordern präventive Maßnahmen, um arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu minimieren. Betrieblicher Gesundheitsschutz ist also für Arbeitgeberinnen in Deutschland gar nichts Neues, er hat eine lange Tradition. Ein BGM kann ein effektiver Weg sein, diese gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen.

Lassen sich die beschriebenen Verpflichtungen zum Wohle der Beschäftigten in den betrieblichen Arbeitsablauf konfliktfrei integrieren? Was ist hierbei zu bedenken?

Franzmann: Na ja, am Arbeitsergebnis hängt so einiges und bisweilen beobachte ich gegenläufige Interessen… Muss es jetzt wirklich die teurere und unzweifelhaft bessere Lärmschutzvorkehrung sein oder reicht nicht auch das billigere Angebot? Nehmen wir die Logistikbranche, in der Regel im Niedriglohnsektor verortet, mit knappen Margen und schnell wechselnden Aufträgen. Dort hebt sich eine Kiste mit einer Vakuumpumpe leichter als mit der Hand, sie kostet halt Geld… Und wenn dann der Kollege nach 20 Jahren „Rücken“ hat, gibt’s ein BEM und eine kleine Abfindung auf die Hand.

Lelley: Mit der richtigen Herangehensweise lassen sich Maßnahmen des BGM konfliktfrei in den Arbeitsablauf integrieren. Wichtig ist, dass die Maßnahmen gut geplant und klar kommuniziert werden. Herausforderungen können durch eine enge Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern und eine schrittweise Implementierung bewältigt werden. Dabei sollte man den Fokus auf praktische und umsetzbare Lösungen legen, die den Arbeitsalltag nicht unnötig belasten.

Reichen die gesetzlichen Vorgaben zur Implementierung eines funktionierenden Gesundheitsmanagements aus oder müsste nachgeschärft werden?

Franzmann: Ja, jedenfalls im Niedriglohnbereich, also bei Arbeitsplätzen mit geringer Qualifikationstiefe – Reinigung, Sicherheit, Logistik, Teile des Einzelhandels – da liegt vieles im Argen. Lange Dienste, dünne Personaldecken, ein gefahrgeneigtes und ein gesundheitsbeeinträchtigendes Arbeitsumfeld. Denken Sie an die vielen Fahrer der Lieferdienste. Start-ups sind dynamisch und cool und regelmäßig eher weniger an den Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten interessiert. Anders sieht es aus in qualifizierteren Beschäftigungsverhältnissen; siehe oben, der einsetzende Fachkräftemangel sorgt für Investitionen in die eigene Belegschaft.

Lelley: Die gesetzlichen Vorgaben bieten einen soliden Rahmen, aber die tatsächliche Umsetzung in den Betrieben kann sich schwierig gestalten. Das liegt aber beileibe nicht an einem Unwillen der Arbeitgeberseite. Hier ist vertrauensvolle Zusammenarbeit der Betriebspartner gefragt – und nicht besserwisserisches Bürokratentum.

Profitieren Sie vom Expertenwissen renommierter Fachanwält:innen, die Sie über aktuelle Entscheidungen des Arbeitsrechts informieren. Es werden Konsequenzen für die Praxis benannt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

Gibt es bewährte Strategien, die Unternehmen nutzen können, um ein erfolgreiches Betriebliches Gesundheitsmanagement zu etablieren? Welche Strategien sind hier Betriebsräten zu empfehlen?

Franzmann: BGM ist ein Gemeinschaftsprodukt, im Gegeneinander nach Lösungen zu suchen, geht schief. Nach meiner Beobachtung – und ich werde eher dort hinzugezogen, wo ein gemeinsames Interesse nicht von vornherein besteht – mangelt es den Betriebsparteien weniger an Erkenntnissen denn an der Umsetzung. Zu oft steht der kurzfristige Erfolg im Vordergrund, die Arbeit muss halt geschafft werden und da bleibt im täglichen Doing wenig Zeit, sich um Prävention zu kümmern. In diesen Betrieben ist es sehr mühsam, gemeinsam Strategien für ein konstruktives Miteinander zum Wohle der Mitarbeiter und des Betriebs zu finden.

Lelley: Unternehmen sollten zunächst eine gründliche Bedarfsanalyse durchführen, um die spezifischen Gesundheitsrisiken und Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter zu verstehen. Darauf basierend können maßgeschneiderte Programme entwickelt werden. Betriebsräte sollten sich konstruktiv einbringen, indem sie Vorschläge machen, die auf realen Bedürfnissen basieren, und die Umsetzung pragmatischer Lösungen unterstützen. Hier gibt es echte Chancen: Anstatt auf starre Forderungen zu bestehen, können Gremien gemeinsam mit der Arbeitgeberin Wege suchen, die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern und gleichzeitig betriebliche Abläufe zu verbessern.

Zurück zur Ausgangsfrage: Ist Betriebliches Gesundheitsmanagement Ausdruck von Zeitgeist oder eine sinnvolle Notwendigkeit, auch im wohlverstandenen Interesse der Arbeitgeberseite?

Franzmann: Das Thema ist zu ernst, um belächelt zu werden. Gefahrenherde für Leib und Leben müssen verhindert werden, jeder Arbeitsunfall ist einer zu viel. Noch nicht angesprochen wurden bislang die psychischen Gefährdungen, die zumeist dem arbeitstäglichen Arbeitsumfeld erwachsen. Belegschaften sind keine homogene Masse, Menschen können miteinander oder auch nicht, Vorgesetzte haben Arbeitsergebnisse zu verantworten und Budgets einzuhalten, Konkurrenz kann belebend, aber auch belastend sein. Arbeitsrecht heißt müssen, soviel der einzelne kann, und das über einen Zeitraum von gut und gerne 45 Jahren. Ob dem mit Yogakursen, Rückenmassagen und einem Gymnastikraum nebst Duschmöglichkeit genüge getan ist… Mir bleiben Zweifel.

Lelley: BGM ist keine Modeerscheinung, sondern eine sinnvolle Notwendigkeit. In einer Zeit, in der Arbeitsausfälle durch Stress und Krankheit leider immer noch nicht ganz verschwunden sind, profitieren Unternehmen von gesunden und zufriedenen Mitarbeitern. Ein effektives BGM kann dazu beitragen, die Krankheitsrate zu senken, die Motivation zu steigern und die Mitarbeiterbindung zu verbessern. Das mögen Arbeitgeber.

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„Ein BGM ist weit mehr als nur ein ‚nice to have‘“
Seite 22 bis 23
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