„Ein Recht auf Unerreichbarkeit sehe ich nirgends“

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 Bild: Nuthawut/stock.adobe.com
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Die Entgrenzung der Arbeitswelt und das sog. „Recht auf Unerreichbarkeit“ standen in der jüngsten Vergangenheit u.a. aufgrund gerichtlicher Entscheidungen im Fokus der Öffentlichkeit.Welche arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen gibt es bezüglich des „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ im Arbeitsverhältnis und wie variieren sie in Europa und darüber hinaus?

Lelley: Zunächst möchte ich eines klarstellen: Mit der deutschen arbeitsrechtlichen Brille geschaut gibt es kein „Recht auf Unerreichbarkeit“ im Arbeitsverhältnis. Das bestätigt auch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Wir haben Regelungen, in diesem Bereich allen voran das Arbeitszeitgesetz, Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen – und nicht zuletzt den Arbeitsvertrag. Daran müssen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer halten. Und das tun sie auch. Ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ sehe ich nirgends. Wenn wir aber schon darüber sprechen: Aus Sicht einer Arbeitgeberin ist es wichtig, die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen bezüglich des „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ im Arbeitsverhältnis zu beachten, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeitnehmerrechten und betrieblichen Erfordernissen zu gewährleisten.

In vielen Ländern, insbesondere in Europa, variieren diese Rahmenbedingungen je nach nationalen Gesetzen und Tarifverträgen. Bspw. haben einige Länder, darunter Frankreich, spezifische Gesetze, die Arbeitnehmern das Recht auf Unerreichbarkeit außerhalb ihrer regulären Arbeitszeiten gewähren, während andere Länder diese Materie flexibler geregelt und durch Tarifverträge oder Unternehmensrichtlinien festgelegt haben. Auch global tut sich hier einiges: In Australien bspw. haben sie jetzt ein „Right to Disconnect“ eingeführt, wenn ich das richtig sehe, und zwar in Form eines Gesetzes, das Beschäftigten erlaubt, dienstliche Kommunikation außerhalb der Arbeitszeit abzulehnen.

Welche Vorteile kann Ihrer Meinung nach ein solches „Recht auf Unerreichbarkeit“ für Arbeitnehmer bieten? Profitieren auch die Bereiche der Work-Life-Balance und psychischen Gesundheit, die ja zunehmend an Bedeutung gewinnen?

Lelley: Das „Recht auf Unerreichbarkeit“ bietet potenzielle Vorteile für Arbeitnehmer, insbesondere in Bezug auf die Work-Life-Balance und psychische Gesundheit. Durch klare Regelungen und Grenzen der Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit können Arbeitnehmer besser abschalten, Stress reduzieren und ihre persönliche Zeit besser nutzen. Dies kann langfristig zu einer höheren Zufriedenheit am Arbeitsplatz, einer besseren Arbeitsleistung und einer geringeren Fluktuation führen. Inwieweit das aber mehr als Wunschdenken ist, vermag ich nicht zu sagen. Wissenschaftlich belastbare Untersuchungen gibt es dazu nicht, soweit ich weiß.

Nun bringt die Regelung des „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ auch einige Herausforderungen mit sich. Welche Bedenken könnten Gewerkschaften und Arbeitgeber hinsichtlich der Umsetzung haben?

Lelley: Gewerkschaften könnten Bedenken hinsichtlich eines „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ haben, wenn sie befürchten, dass Arbeitgeber diese Regelung nutzen könnten, um unbezahlte Überstunden zu vermeiden oder die Flexibilität der Arbeitszeit zu beschränken. Arbeitgeber wiederum könnten Bedenken haben, dass strenge Regelungen zum „Recht auf Unerreichbarkeit“ die betriebliche Effizienz beeinträchtigen könnten, insbesondere in Branchen oder Positionen, die eine kontinuierliche Erreichbarkeit erfordern, wie bspw. im Bereich des Kundendienstes oder in Notfällen. Und da sind wir dann auch schon ganz schnell bei dem alten Dilemma: der Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen der Arbeitsvertragsparteien. Das ist gleichsam der Streit um Überstunden und Mehrarbeit in moderner Verpackung…

Versuchen wir einmal, voraus zu denken: Könnte ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ die Produktivität und Leistung der Mitarbeiter beeinflussen?

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Lelley: Sowohl kurz- als auch langfristig könnte ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ zu Veränderungen in der Produktivität und Leistung der Mitarbeiter führen. Kurzfristig könnten klare Regeln zur Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit dazu beitragen, dass Mitarbeiter sich besser erholen und ausgeruhter zur Arbeit kommen, was sich positiv auf ihre Leistung auswirken könnte. Langfristig könnte eine bessere Work-Life-Balance dazu beitragen, die Mitarbeiterbindung und -motivation zu erhöhen, was sich wiederum positiv auf die Produktivität auswirken könnte. Allerdings könnte es auch zu Herausforderungen in der Kommunikation und Zusammenarbeit kommen, wenn die Erreichbarkeit zu stark eingeschränkt wird. Offen gesagt habe ich das Gefühl, da werden auch viele Dinge in die Diskussion geworfen, die noch nicht zu Ende gedacht sind.

Können Sie sich eine ausgewogene Regelung eines „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ vorstellen, die die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gleichermaßen berücksichtigt?

Lelley: Eine solche ausgewogene Regelung des „Rechtes auf Unerreichbarkeit“ könnte z.B. durch die Festlegung klarer Richtlinien und Grenzen für die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit erfolgen, die die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter und gleichzeitig die betrieblichen Anforderungen angemessen berücksichtigen. Flexibilität könnte – und muss aus meiner Sicht sogar – ebenfalls eine Rolle spielen, indem bestimmte Positionen oder Situationen, die eine kontinuierliche Erreichbarkeit erfordern, entsprechend behandelt werden. Eine offene Kommunikation zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gewerkschaften ist entscheidend, um eine ausgewogene Regelung zu finden, die die Bedürfnisse aller Parteien berücksichtigt.

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„Ein Recht auf Unerreichbarkeit sehe ich nirgends“
Seite 32 bis 33
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