Kabotagesystem im Wandel

Streitschrift zur Zukunft des deutschen Transportgewerbes

Derzeit klagen in Deutschland die meisten Spediteure über zwei Punkte: Sie kommen bei Neuausschreibungen von Transportaufträgen im deutschen und im EU-Bereich immer seltener zum Geschäftsabschluss, verlieren deutlich mehr Aufträge, und damit einhergehend ist zu beobachten, dass es stets schwieriger wird, geeignete Fahrer zu finden, was primär damit zusammenhängt, welcheMonatslöhne und Spesen gezahlt werden können. Im Ergebnis ist diese Entwicklung derzeit kein essenzielles Problem – aber wie lange noch?

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 Bild: pixabay.com
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Ausgestaltung

Kabotage ist gewerblicher Güterkraftverkehr mit Be- und Entladeort in einem Staat, dem sog. Aufnahmemitgliedstaat, durch einen Unternehmer, der in diesem Staat weder einen Sitz noch eine Niederlassung hat. Seit dem 14.5.2010 gelten EU-weit einheitliche Kabotagebestimmungen (Art. 8 ff. Verordnung [EG] Nr. 1072/2009). In diesem Zusammenhang lässt Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Kabotagebeförderungen im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung erst nach vollständiger Entladung des Fahrzeugs zu. Für das Erste könnte man hier den Standpunkt vertreten, dass diese EU-Verordnung alle innerhalb der EU tätig werdenden Spediteure betrifft und daher per se die Maßnahme sachgerecht und angemessen i. S. d. Gemeinschaftsrechts ist, wenn in diesem Bereich nicht die deutlichen Unterschiede bei den Mindestlöhnen und der Gehaltsstruktur wären.

Beispiel: Ein bulgarischer Spediteur, der seinen Sitz in Sofia hat, lässt am Montag einen Lkw mit einer Ladung Weizen aus Russland nach Österreich fahren. In Linz wird der Weizen vollständig abgeladen und von österreichischen Spediteuren zu zwei Mühlen in Oberösterreich gebracht. Der bulgarische Fahrer setzt dann mit dem leeren Lkw die Fahrt fort nach Freilassing, dort werden Verpackungen für die Lebensmittelindustrie verladen und ins Ruhrgebiet transportiert. Für den Fahrer mit Wohnsitz in Bulgarien ändert sich nichts an seinem Monatslohn von etwa 700 Euro nach bulgarischem Recht. Bei der Rückfahrt werden nach vollständiger Entladung der Verpackungen Zulieferteile für Audi in Ingolstadt transportiert und dort entladen. In Deutschland hat die bulgarische Spedition keine Niederlassung. Bis zur Höchstdauer der möglichen Kabotagefahrten geht das die nächsten Tage so weiter, am Donnerstagabend verlässt der Lkw leer über die A3 Deutschland und transportiert von Wels nach Sofia Kleidung, die per Flugzeug in Linz eingetroffen und in Wels sortiert worden ist.

Innerhalb von drei Tagen nach der Einfahrt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaateskann mit einem unbeladenen Fahrzeug eine Kabotagebeförderung durchgeführt werden. Dies setzt voraus, dass zuvor eine grenzüberschreitende Beförderung in einen anderen Mitgliedstaat stattgefunden hat und dass insgesamt die Sieben-Tage-Frist eingehalten wird (Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 Verordnung [EG] Nr. 1072/2009). Vom Geltungsbereich der Vorschriften, die für Kabotagebeförderungen gelten, sind gem. den Bestimmungen der Art. 8 und 9 der VO auch Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von bis zu 3,5 t umfasst. Diese Regelungen gelten daher auch für „Sprinter“ und ähnliche kleinere Fahrzeuge. Dies bedeutet, dass unter Einhaltung der sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen auch im Bereich von „Kleintransporten“ mit dem System in den deutschen Markt des Transportgewerbes eingegriffen werden kann.

„Entsandte” Arbeitnehmer?

Die weitere Frage, welche sich hier stellt, ist, ob Lkw-Fahrer, die im Rahmen von „Charterverträgen“ im grenzüberschreitenden Güterverkehr eingesetzt werden, „entsandte“ Arbeitnehmer i. S. d. Schutz vor Sozial- und Lohndumping bezweckenden Entsenderichtlinie sein können. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 1.12.2020 entschieden (C-815/18, AuA 4/21, S. 52). Die Richtlinie ist auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar. Der Fall des EuGH hat allerdings eine Situation betroffen, bei dem es um das „Lohngefälle“ zwischen den Niederlanden und Deutschland ging, der im Bereich der Transportleistungen durchaus vorhanden ist, wenn auch nicht signifikant. Diese Grundsätze werden prinzipiell auch zu gelten haben, wenn es um die Lohnabstände zwischen Deutschland und Polen, Rumänien, Bulgarien oder Litauen gehen sollte. Der EuGH-Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Arbeitnehmer aus Deutschland und Ungarn waren im Rahmen von Charterverträgen als Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätig. Die Charterverträge sind zwischen drei derselben Unternehmensgruppe angehörenden Transportunternehmen geschlossen worden, die ihren Sitz in Deutschland, Ungarn und den Niederlanden hatten. Alle Fahrer schlossen arbeitsvertragliche Vereinbarungen mit dem deutschen und dem ungarischen Betrieb. Die Vercharterung fand i. d. R. an einem festgelegten Ort statt und die Fahrten endeten dort auch. Die meisten auf der Grundlage der Charterverträge durchgeführten Beförderungen fanden nicht in den Niederlanden statt.

Nach Ansicht des niederländischen Gewerkschaftsbundes hätte der niederländische Betrieb bei der Einschaltung von Fahrern aus Deutschland und Ungarn auf diese in ihrer Eigenschaft als entsandte Arbeitnehmer i. S. d. Entsenderichtlinie die grundlegenden Arbeitsbedingungen des (niederländischen) Tarifvertrags für den Güterverkehr anwenden müssen. Er verklagte deshalb die drei Güterkraftverkehrsunternehmen. Im ersten Rechtszug erging ein stattgebendes Zwischenurteil. Dieses wurde jedoch im Berufungsverfahren aufgehoben. Das niederländische Berufungsgericht war der Auffassung, dass die Vercharterungen nicht in den Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie fallen, weil sich diese Richtlinie nur auf Vercharterungen beziehe, die zumindest hauptsächlich „im Hoheitsgebiet“ eines anderen Mitgliedstaates erfolgen. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande rief den EuGH zu den Voraussetzungen an, unter denen auf das Vorliegen einer Entsendung von Arbeitnehmern „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates“ im internationalen Straßenverkehrssektor geschlossen werden kann.

Der EuGH hat herausgestellt, dass die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist, denn diese gilt grundsätzlich für jede länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen, welche mit einer Entsendung von Arbeitnehmern verbunden ist, unabhängig vom jeweiligen Wirtschaftssektor. Dass die Rechtsgrundlage dieser Richtlinie keine Bestimmungen über den Speditionsverkehr umfasst, begründet keinen Ausschluss vom Anwendungsbereich der Richtlinie über die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor.

Hinreichender Bezug zum Einsatzland erforderlich

Für die Einordnung der betroffenen Fahrer als „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt[en]“ Arbeitnehmer muss allerdings die Arbeitsleistung einen hinreichenden Bezug zu diesem EU-Staat haben. Ob eine solche Verbindung auch tatsächlich vorliegt, ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beurteilen. Maßgeblich sind dabei u. a.:

  • die Art der vom betreffenden Arbeitnehmer in diesem Hoheitsgebiet verrichteten Tätigkeiten und
  • die Enge der Verbindung der Tätigkeiten dieses Arbeitnehmers zu dem Hoheitsgebiet eines jeden Mitgliedstaates, in dem er tätig ist sowie
  • der Anteil, den diese Tätigkeiten dort an der gesamten Beförderungsleistung ausmachen.

Diese Kriterien sind für sich gesehen alles andere als klar einzuordnen. Bei der Tätigkeit wird es sich zumeist um das Fahren mit dem Lkw handeln, vereinzelt auch die Mitwirkungen bei Be- und Entladearbeiten. Auch das zweite Kriterium, die „Enge der Verbindung der Tätigkeiten“ zum jeweiligen Land in der EU, in dem er tätig ist, erscheint als ein eher schwer zu fassendes Kriterium – wie soll diese „Enge“ dargestellt werden? Kriterium Nummer drei ist zwar plausibel berechenbar, aber etwas fraglich in der Aussagekraft. Dass ein Fahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen worden ist, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung dieser Aufgaben dort beginnen oder beenden müsse, reicht allerdings nach der Auffassung des EuGH nicht für die Annahme eines entsandten Arbeitnehmers aus, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem EU-Land aufweist. Der EuGH hat klargestellt, dass das Bestehen eines Konzernverbunds für die Beurteilung, ob eine Entsendung vonArbeitnehmern tatsächlich vorliegt, als irrelevant erscheint.

Fernerhin ging der EuGH auf den Sonderfall der Kabotagebeförderungen ein. Für diese gilt, wie die Verordnung betont, die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern. Der EuGH hat entschieden, dass diese Beförderungen vollständig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaates stattfänden. Hieraus kann geschlossen werden, dass die Arbeitsleistung des Fahrers im Rahmen solcher Beförderungen eine hinreichende Verbindung zu diesem Gebiet aufweist. Die Dauer der Kabotagebeförderung ist allerdings für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Entsendung unerheblich, unabhängig der den Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zur Verfügung stehenden Möglichkeit, bestimmte Vorschriften der Richtlinie, insbesondere in Bezug auf die Mindestlohnsätze, nicht anzuwenden, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt.

Hier liegt ein wesentlicher Punkt der Gesamtproblematik: Wenn es einer Spedition aus EU-Bereichen der Niedriglohnländer gelingen sollte, die Dauer der Entsendung auf die Zeit unter einem Monat zu beschränken, dann den Fahrer für einige Zeit in anderen Ländern und erst Monate später wieder in diesem EU-Landeinzusetzen, werden die Mindestlohnsätze im jeweiligen Land keine große Bedeutung für diese Speditionen haben. Hier geht es – um es zu veranschaulichen – um ganz erhebliche Differenzen: 9,60 Euro derzeit in Deutschland (in der Zeit vom 1.7.2021 bis zum 31.12.2021, dann in der ersten Jahreshälfte 2022 9,82 Euro und ab dem 1.7.2022 10,45 Euro), Mindestlohn (Stand 2020) in Polen 3,50 Euro, in Ungarn 2,85 Euro, in Rumänien 2,81 Euro, in Bulgarien 1,87 Euro und in der Ukraine 0,98 Euro. Entsprechend sind von den dortigen Arbeitgebern auch geringe Sozialabgaben zu zahlen.

Insgesamt haben derzeit 21 der 27 EU-Staaten einen landesweiten und branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Dabei verzeichnen die osteuropäischen EU-Staaten vergleichsweise niedrige Mindestlöhne von teilweise weniger als 650,00 Euro brutto im Monat. Im Verhältnis zum jeweiligen Durchschnittsverdienst liegt der Mindestlohn in Deutschland im Vergleich zu den anderen Staaten eher im unteren Bereich. Sechs der 27 EU-Staaten, darunter viele mit überdurchschnittlichem Lohnniveau, haben keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Dazu gehören Dänemark, Finnland, Italien, Österreich, Schweden und Zypern (Stand 2020).

Für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge

Des Weiteren hat der EuGH darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten im Fall einer Entsendung von Arbeitnehmern nach dieser Richtlinie dafür sorgen müssen, dass die betreffenden Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern eine Reihe von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die u. a. in für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen festgelegt seien. Ob dann tatsächlich ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden wäre, ist anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen. Allerdings fällt unter diesen Begriff auch ein Tarifvertrag, der zwar nicht für allgemein verbindlich erklärt worden sei, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstellt, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch sind. Das mag aus der Sicht des deutschen Tarifrechts etwas unverständlich sein, denn dieses kennt die klare Abgrenzung der Rechtswirkungen von für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen von solchen, die es nicht sind.

In diesem Bereich musste der EuGH etwas unverbindlich bleiben und nicht allzu konkrete Aussagen tätigen – zu verschieden ist hier die kollektiv-rechtliche Situation in der EU. Beispielsweise hat in Österreich der jeweilige für die Branche gültige Kollektivvertrag eine wesentlich effizientere Bedeutung als in Deutschland – relativ viele Arbeitsverhältnisse unterfallen ihm. In Deutschland ist es schon geraume Zeit her, als teilweise der (Landes-)Manteltarifvertrag im Speditionsgewerbe zum letzten Mal für allgemeinverbindlich erklärt wurde, und derzeit sieht es nicht so aus, dass dies zeitnah wieder erfolgen würde. Auch der bundesweit geltende und aus dem Jahr 1988 stammende BMT-Fernverkehr, gültig für den Güter- und Möbelfernverkehr, ist nicht allgemeinverbindlich. Bezugnahmeklauseln auf die deutschen Tarifverträge werden von einigen Speditionen durchaus vorgenommen, sind aber nicht generell üblich in der Branche. Die vom EuGH vorgenommene Ausnahme bei einem nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag, der aber anwendbar sein soll, um aus dem Anwendungsbereich eines anderen, allgemeinverbindlichen Tarifvertrags herauszukommen, ist für das deutsche Speditionsgewerbe derzeit weitgehend ohne Relevanz – davon könnte (allenfalls) eine Branche betroffen sein, die einen Bundesrahmentarifvertrag und speziellere Ländertarifverträge abgeschlossen hat.

Prüfungsmöglichkeiten der Zollverwaltung

Sofern ein Arbeitgeber seinen Sitz in einem anderen (nicht in Deutschland) EU-Mitgliedstaat hat, deren Arbeitnehmer im deutschen Inland tätig sind, sind diese Arbeitgeber nach dem MiLoG verpflichtet, eine Überprüfung von Art und Umfang der in Deutschland verrichteten Arbeiten durch die deutsche Zollverwaltung zu dulden. Die konkrete Frage ist nur, was das Ergebnis derartiger Überprüfungen sein kann. Die möglichen strafrecht-lichen Aspekte dieses Bereichs wurden vor gut einem Jahr durch einige Entscheidungen des BFH vom 18.8.2020 (VII R 34/18, VII R 35/18 und VII R 12/19) erörtert. In diesen Verfahren hatten Transportunternehmer aus dem EU-Bereich Meldungen nach der MiLo-Meldeverordnung abgegeben und grenzüberschreitende Transporte durchgeführt, bei denen entweder nur die Entladung oder nur die Beladung in Deutschland durchgeführt wurde. Teilweise war bei den Verfahren strittig, ob die Unternehmer überhaupt in Deutschland Transporte durchgeführt haben oder nur Leerfahrten durch Deutschland unternommen wurden. Um die Geschehnisse aufzuklären, hat das Hauptzollamt unter Hinweis auf das MiLoG Prüfungsverfügungen erlassen und die jeweiligen Arbeitgeber aufgefordert, die Arbeitsverträge, die Lohnabrechnungen und die Arbeitszeitabrechnungen vorzulegen, wogegen die ausländischen Arbeitgeber mit Klage vorgingen und darauf abstellten, dass das MiLoG auf ausländische Transportunternehmer nicht anwendbar wäre und die Prüfungsbefugnisse des Zolls u. a. gegen Unionsrecht verstoßen würden, wobei diese Klagen vor dem BFH weitgehend ohne Erfolg blieben.

Nach § 20 MiLoG sind Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland seit dem 1.1.2015 verpflichtet, ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmern spätestens am Ende des auf die Arbeitsleistung folgenden Monats ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns (§ 1 Abs. 2 MiLoG) zu zahlen. Für die Prüfung der Einhaltung dieser Verpflichtung sind nach § 14 MiLoG die Behörden der Zollverwaltung zuständig. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 SchwarzArbG i. V. m. § 15 Satz 1 Nr. 1 MiLoG können die Behörden der Zollverwaltung hierzu Einsicht in Arbeitsverträge, Niederschriften nach § 2 Nachweisgesetz und andere Geschäftsunterlagen nehmen, die mittelbar oder unmittelbar Auskunft über die Einhaltung des Mindestlohns nach § 20 MiLoG geben. Die Arbeitgeber ihrerseits sind nach § 15 Satz 1 Nr. 2 und § 17 MiLoG i. V. m. § 5 SchwarzArbG verpflichtet, entsprechende Unterlagen zu erstellen, bereitzuhalten und ggf. vorzulegen.

Im Jahr 2009 wurde das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) grundlegend neugefasst mit dem Ziel, angemessene Mindestarbeitsbedingungen für alle grenzüberschreitend entsandten und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer zu schaffen und faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten (vgl. § 1 AEntG). Insbesondere sollte ein Rechtsrahmen geschaffen werden, um tarifvertragliche Mindestlöhne für alle Beschäftigten einer Branche verbindlich zu machen, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Sitz im In- oder Ausland hat.

Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bundesrat darauf gedrängt, für den Vollzug der Regelungen über die Mindestarbeitsbedingungen und insbesondere auch über Mindestlöhne eine einheitliche Zuständigkeit der Zollbehörden zu schaffen; eine „Vermischung von Verwaltungszuständigkeiten“ unter Einbeziehung der Arbeitsbehörden der Länder hatte der Bundesrat – wohl zurecht wegen der damit verbundenen „Kompetenzunsicherheiten“ – abgelehnt. Das Gesetz wurde unter Hinweis auf Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags und mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen.

Die Prüfungsbefugnis der Zollbehörden und die korrespondierenden Mitwirkungspflichten der ausländischen Arbeitgeber werden von dem Streit um die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Beschäftigung im Inland“ in § 20 MiLoG nicht berührt. Aus der Richtlinie 2020/1057 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.7.2020 zur Festlegung besonderer Regeln im Zusammenhang mit der RL 96/71/EG und der RL 2014/67/EU für die Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor und zur Änderung der RL 2006/22/EG bzgl. der Durchsetzungsanforderungen und der Verordnung Nr. 1024/2012 lässt sich kein anderes Ergebnis herleiten. Zwar gilt nach Art. 1 Abs. 2 und 3 RL 2020/1057/EU ein Kraftfahrer, der bei einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmen beschäftigt ist und bilaterale Beförderungen von Gütern durchführt, nicht als „entsandt“ i. S. d. RL 96/71/EG. Art. 9 RL 2020/1057/EU sieht allerdings eine Umsetzung dieser Richtlinie erst bis zum 2.2.2022 vor, sodass Art. 1 Abs. 3 RL 2020/1057/EU für den vorliegenden Bereich – vorerst – nicht maßgeblich ist.

Mit dieser Entscheidung hat der BFH allerdings – lediglich – die Prüfungsmöglichkeiten des Zolls bestätigt mit der Folge, dass Speditionsunternehmen aus dem EU-Bereich diese Prüfungen über sich ergehen lassen müssen. Die Frage ist, welche Rechtsfolgen diese Prüfungen eintreten lassen können. Von Bedeutung ist hier, ob letztendlich der deutsche Zoll irgendwelche umsetzbaren Maßnahmen zur Herstellung einigermaßen gleichwertiger Wettbewerbsbedingungen – zumindest soweit in Deutschland oder anderen EU-Staaten, die einen Mindestlohn gesetzlich geregelt haben, gefahren wird – erwirken kann. Derzeit dürfte diese Möglichkeit allerdings weitgehend nicht tatsächlich umzusetzen sein. Kontrollen mögen stattfinden, die Zahlung des jeweiligen Mindestlohns an den Fahrer aus einem EU-Niedriglohnland ist fraglich, insbesondere in Bezug auf eine gerichtliche Durchsetzbarkeit.

Klagemöglichkeiten

Die Klagemöglichkeit bei einem deutschen Arbeitsgericht durch einen Arbeitnehmer, der aus einem EU-Auslandsstaat kommt, dort wohnhaft ist und dessen Arbeitgeberauch dort seinen Sitz hat, wird derzeit auch wegen der fehlenden internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte – unabhängig von der Frage, ob dieser Spediteur, der seinen Firmensitz in einem anderen EU-Staat hat, möglicherweise auch in Deutschland eine (Zweig-)Niederlassung unterhält – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit scheitern.

Ob ein deutsches oder ausländisches Gericht zuständig ist, richtet sich nach der internationalen Zuständigkeit. Für diese sind bei Fehlen von Regelungen in internationalen Verträgen oder Abkommen grundsätzlich die Vorschriften der ZPO über die örtliche Zuständigkeit (§§ 12 ff. ZPO) maßgeblich. Die wichtigsten Gerichtsstände sind der allgemeine Gerichtsstand (§ 12 ZPO), derjenige des Aufenthaltsorts (§ 20 ZPO), der Niederlassung (§ 21 ZPO) und des Erfüllungsorts (§ 29 ZPO). Ist ein deutsches Gericht örtlich zuständig, ist es auch international zuständig. Nach Art. 6 der Entsenderichtlinie sind die Arbeitsgerichte des Staates, in dem der Arbeitnehmer tätig ist, zuständig für Klagen, mit denen in der Richtlinie garantierte Arbeitsbedingungen geltend gemacht werden, prinzipiell daher auch der Mindestlohn bei Fahrten im EU-Bereich durch Staaten, die einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn haben. Diese Bestimmung ist in § 8 AEntG in nationales Recht umgesetzt worden, der nicht nur die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, sondern auch den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen begründet (BAG, Beschl. v. 11.9.2002 – 5 AZB 3/02, NZA 2003, S. 62).

Die Begriffe einer „Zweigniederlassung“ oder der „sonstigen Niederlassung“ i. S. d. Art. 18 Abs. 2 EGV 44/2001 setzten allerdings voraus, dass es einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit gibt, der auf Dauer als Außenstelle des „Stammhauses“ hervortritt. Bei einer Spedition, die ihren Sitz in einem EU–Staat hat, würde dies für die internationale Zuständigkeit eines teilweise in Deutschland tätig werdenden Arbeitnehmers im Speditionsbereich in Bezug auf die Einklagung des Mindestlohns bei einem deutschen Arbeitsgericht voraussetzen, dass eine derartige „Zweigniederlassung“ oder „sonstige Niederlassung“ in Deutschland unterhalten wird – eine in der Praxis wohl eher seltene Variante.

Angemietete Lagerhallen und dergleichen ohne eine organisatorische und personelle Ausstallung dürften in diesem Zusammenhang nicht genügen. Dieser „Mittelpunkt“ muss eine Art „Geschäftsführung“ haben und sachlich so ausgestattet sein, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Stammhaus zu wenden brauchen. Eine Zweigniederlassung oder eine sonstige Niederlassung ist eine Einheit, die als hauptsächlicher, wenn nicht ausschließlicher Gesprächspartner von Dritten in Vertragsverhandlungen auftreten kann; diese Einheit wird dadurch umschrieben, dass sie der Aufsicht und Leitung des Stammhauses unterliegt.

Auch ein vom „Stammhaus“ gesellschaftsrechtlich unabhängiges Unternehmen kann eine Niederlassung sein, wenn das Stammunternehmen seine Tätigkeit mithilfe dieser Gesellschaft in dem Mitgliedstaat entfaltet, beide den gleichen Namen führen und das Unternehmen im Namen des „Stammhauses“ verhandelt und Geschäfte abschließt. Es bedarf keiner näheren Erklärung, dass dies bei Speditionen aus anderen EU-Ländern, welche schwerpunktmäßig auch in Deutschland Aufträge ausführen, nicht begründet werden kann, weil derartige Einrichtungen so gut wie nicht vorhanden sind. Speditionsaufträge werden zumeist über Internetportale oder telefonisch ausgehandelt und vergeben, und wenn es zu Rahmenverträgen kommt, werden diese zumeist auf den genannten Wegen abgeschlossen.

Dass aufgrund der Art und Weise, wie sich die Unternehmen im Geschäftsleben verhalten und wie sie sich Dritten gegenüber in ihren Rechtsbeziehungen darstellen, der Anschein erweckt wird, bei dem Unternehmen handele es sich um eine Niederlassung des „Stammhauses“, dürfte im EU-weiten Speditionsbereich nahezu vollständig ausgeschlossen sein. Dritte, welche Geschäfte mit einem Unternehmen abschließen, das als Außenstelle einer anderen Gesellschaft tätig wird, müssen sich auf den so erweckten Anschein verlassen und dieses als eine Niederlassung der anderen Gesellschaft ansehen können, selbst wenn die beiden Gesellschaften gesellschaftsrechtlich voneinander unabhängig sind (BAG, Urt. v. 25.6.2013 – 3 AZR 138/11, NZA 2014, S. 56).

Standpunkt des EuGH

Der EuGH hat in einem aktuellen Urteil vom 8.7.2021 (C-4238/19, NZA 2021, S. 1167) zu einer Vorlage aus Ungarn entschieden, wobei hier dem EuGH nicht nur Fragen des Mindestlohns bei Fahrten von EU-Lkw-Fahrern durch Länder im Vordergrund standen, die einen deutlichen höheren Mindestlohn haben, sondern auch die Frage, ob bestimmte Zahlungen als mindestlohnrelevantanzusehen sind. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Entscheidung – wohl (auch) aus prozessualen Gründen – eher überschaubar, weil die Entscheidung unter dem Vorbehalt steht, dass das jeweilige Land der Lkw-Durchfahrt – etwa Deutschland – für einen Rechtsstreit des Lkw-Fahrers aus einem EU-Niedriglohnland nach Auffassung des Gerichts in Deutschland auch zuständig ist.

Nach ungarischem Recht hat (derzeit) ein Arbeitnehmer Anspruch auf Tagegelder für im Ausland verrichtete Arbeit. Aus einem von einem ungarischen Arbeitgeber herausgegebenen Informationspapier für Arbeitnehmer ergibt sich, dass diese Tagesgelder mit zunehmender Dauer der Entsendung der Arbeitnehmer ins Ausland ansteigen, und nach dem Vertrag konnte nach Wahl des Arbeitnehmers dieser Entsendungszeitraum grundsätzlich zwischen drei und fünf Wochen liegen. In der Zusage wurde klargestellt, dass die Tagegelder die im Ausland entstandenen Kosten decken sollten. Fernerhin sahen die Arbeitsverträge der Lkw-Fahrer für diese vor, dass dann, wenn sie Treibstoff einsparen, eine im Ermessen des Arbeitgebers stehende Zulage gezahlt wird. Während der gesamten Entsendungsdauer legte der ungarische Arbeitgeber fest, welche Beförderungseinsätze durchzuführen waren, er bestimmte also, an welchem Datum, mit welchem Fahrzeug und auf welcher Route die Güter befördert werden sollten. Aufgrund der Kabotagevorschriften überquerten die Fahrer mehrfach die Grenze. Zu Beginn jedes Entsendungszeitraums stellte der Arbeitgeber den Lkw-Fahrern eine von einem ungarischen Notar beglaubigte Erklärung und eine Entsendebescheinigung des französischen Arbeitsministeriums zur Verfügung, aus denen sich ergab, dass ihr Stundenlohn 10,40 Euro pro Stunde betrug und somit höher war als der im Straßenverkehrssektor geltende französische Mindeststundenlohn, der mit (zur Zeit der Entscheidung) 9,76 Euro festgelegt war.

Der EuGH vertritt hierzu folgenden Standpunkt: Die RL 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen ist dahin auszulegen, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Dies hat zur Folge, dass grundsätzlich die Entsenderichtlinie auch im Lkw-Verkehr bei europäischen Speditionen innerhalb der Fahrten in der EU zur Anwendung kommt. Die Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 i. V. m. deren Art. 5 sind dahingehend auszulegen, dass sie das Erfordernis aufstellen, dass der Verstoß eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgebers gegen die Mindestlohnvorschriften eines anderen Mitgliedstaats von entsandten Arbeitnehmern des erstgenannten Mitgliedstaats vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats, sofern es zuständig ist(!), gegen den genannten Arbeitgeber geltend gemacht werden kann. Die Zuständigkeit eines deutschen Arbeitsgerichts dürfte sich für solche Lohnstreitigkeiten für Lkw-Fahrer aus Niedrigmindestlohn-EU-Staaten – wie ausgeführt – derzeit nicht begründen lassen und sie müssten die Ansprüche vor einem Arbeits- oder Zivilgericht – je nach der Ausgestaltung der nationalen Prozessordnung – klageweise geltend machen, in dem sich der Firmensitz des Arbeitgebers befindet, was zumeist das Heimatland der Lkw-Fahrer sein wird.

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Fernerhin hat der EuGH darauf hingewiesen, dass Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der RL dahingehend auszulegen ist, dass ein Tagegeld, das je nach Dauer der Entsendung des Arbeitnehmers unterschiedlich hoch ausfällt, eine Entsendungszulage darstellt, die Bestandteil des Mindestlohns ist, es sei denn, das Tagegeld wird als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten, wie Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten, gezahlt oder entspricht einer Zulage, welche das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändert.

Umsetzung in der Gerichtspraxis

Auch aus einer neueren Entscheidung des BAG zur internationalen Zuständigkeit kann kein anderer Standpunkt abgeleitet werden (Urt. v. 7.5.2020 – 2 AZR 692/19, NZA 2021, S. 224). Wenn ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten ausüben sollte, dann ist der gewöhnliche Arbeitsort regelmäßig der Ort, an dem oder von dem aus er seine berufliche Tätigkeit tatsächlich ausübt und – in Ermangelung eines Mittelpunkts der Tätigkeit – an dem er den größten Teil seiner Arbeit verrichtet. Erst wenn auch damit ein gewöhnlicher Arbeitsort in einem Staat nicht feststellbar ist, kann auf die „einstellende Niederlassung“ (Art. 8 ROM-I-VO) zurückgegriffen werden.

Dies wurde entschieden für eine Fluggesellschaft eines nicht-EU-Staates (Indien), die in Deutschland eine Niederlassung unterhält, wie dies bei den meisten der größeren international tätigen Fluggesellschaften der Fall ist. Die Situation ist aber nicht vergleichbar mit Speditionen in EU-Staaten, die als „Billiglohnländer“ gelten und im gesamten EU-Bereich wie auch in Nicht-EU-Staaten Speditionsaufträge annehmen. Zumeist ist keine irgendwie geartete Niederlassung in Deutschland vorhanden, allenfalls eine Lagerhalle oder Ähnliches und die Arbeitsverträge werden regelmäßig am Firmensitz geschlossen mit der Anwendbarkeit des Arbeitsrechts des EU-Mitgliedstaates, in dem sich der Firmensitz befindet.

Inländische Gesetze sind nur dann Eingriffsnormen i. S. d. Art. 34 EGBGB (der allerdings zwischenzeitlich aufgehoben wurde), wenn sie entweder ausdrücklich oder nach ihrem Sinn und Zweck ohne Rücksicht auf das nach deutschen Kollisionsnormen anwendbare Recht gelten sollen. Erforderlich ist, dass die Vorschrift nicht nur auf den Schutz von Individualinteressen der Arbeitnehmer gerichtet ist, sondern mit ihr zumindest auch Gemeinwohlinteressen verfolgt werden. Beim MiLoG dürfte dies wohl relativ eindeutig zu bejahen sein, schon wegen der damit bezweckten Existenzsicherung; fraglich ist allerdings, ob hierfür erforderlich ist, dass der diesen Mindestlohn beanspruchende Arbeitnehmer seinen gewöhnlichen Arbeitsort im Inland hat. Weil allerdings die Beschäftigten der Speditionen aus EU-Ländern mit niedrigem Mindestlohn, im Bereich der Lkw-Fahrer aus Polen, Rumänien, Bulgarien, Litauen, der Tschechischen Republik und der Slowakei, zumeist ihren Wohnsitz in diesem Land haben werden, ist die praktische Relevanz eher gering.

Rechtliche Folgen

Die Möglichkeiten der in Deutschland tätigen Speditionen, die Umsetzung dieser Grundsätze zu verlangen, sind überschaubar. Sicherlich, die jetzt rechtlich abgesicherten Kontrollmöglichkeiten des Zolls geben eine Befugnis dazu, die Fahrer (und auch die Arbeitgeber) bei Speditionen aus EU-Ländern mit einem niedrigeren Mindestlohn als in Deutschland darauf hinzuweisen, dass sie für die Zeit, in der sie in Deutschland ihre Speditionsarbeitsleistung durch die Lkw-Fahrten und die Standzeiten, die ggf. als Arbeitszeit gelten, den Mindestlohnanspruch nach dem deutschen MiLoG haben. Inzwischen gehen die Arbeitgeber bei Speditionen aus EU-mindestlohnniedrigen Ländern bei den nationalen Arbeitsverträgen allerdings dazu über, dies auch so in die Arbeitsverträge zu schreiben, dass bei Kontrollen keine formellen Beanstandungen erfolgen und – insbesondere dann, wenn der Arbeitsvertrag zweisprachig ausgestaltet wird, etwa in rumänischer und englischer Sprache – eine Überprüfung der jeweiligen Passage des Vertrags der deutschen Kontrollbehörde beim Zoll durchaus durchführbarist, ohne gleich einen Übersetzer parat halten zu müssen.

Damit ist aber bei Weitem nicht gewährleistet, dass für die Zeiten der Fahrten in Deutschland und anderen EU-Ländern, in denen der Mindestlohn deutlich höher ist als der in Osteuropa, dieser den Fahrern auch tatsächlich zukommt. Die Überprüfung von Lohnabrechnungen durch den Zoll kann sich bestenfalls darauf beziehen, ob tatsächlich in einem der Vormonate für einen Teil der Arbeitszeiten der deutsche oder der für einen anderen EU-Hochlohnstaat relevante Mindestlohn ausgewiesen wurde. Ob er tatsächlich voll, anteilig oder nicht gezahlt wurde, ist eine andere Frage. Die meisten der Fahrer aus anderen EU-Staaten werden die deutschen Zollkontrollen nicht gerade als eine Art „Freundschaftsdienst“ und gebotene „Beratung über gesetzliche Pflichten“ auffassen, sondern eher als eine Maßnahme einer mehr oder weniger „feindlich gesonnenen Eingriffsbehörde“, da sie eigentlich nur eines wollen: möglichst viel fahren und möglichst „viel“ verdienen. Fragen, ob für Zeiten der Fahrten der deutsche Mindestlohn bezahlt wird, werden sie daher wohl stets wohlwollend bejahend beantworten, um dann weiterfahren zu können, wenn keine anderweitigen Beanstandungen vorliegen sollten.

Klage unwahrscheinlich

Dass ein Lkw-Fahrer für die Zeiten, in denen er die hier maßgebliche Arbeitsleistung erbringt, den entsprechenden Mindestlohn vor einem polnischen, tschechischen, rumänischen, bulgarischen oder einem Gericht aus dem Baltikum einklagt, dürfte als eher unwahrscheinlich einzuschätzen sein. Zwar wäre grundsätzlich das jeweilige Zivil- oder Arbeitsgericht des betreffenden Landes verpflichtet, das deutsche MiLoG und die Mindestlohnregelungen von anderen EU-Ländern der „höheren Preiskategorie“ zur Anwendung zu bringen, allerdings dürfte dann die nach deutschem Rechts relevante Unverzichtbarkeit und Unverwirkbarkeit des Anspruchs (§ 3 Sätze 1 und 3 MiLoG) wohl nur für das deutsche Arbeitsgericht und damit in Deutschland gelten. Hierzu wurden allerdings – soweit ersichtlich – noch keine näheren Überlegungen angestellt.

Fernhin riskieren Fahrer, die derartige Zahlungsrechtsstreite in ihren Heimatländern gegen ihren Arbeitgeber anstrengen sollten, wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses, insbesondere in Ländern, die keinen so ausgeprägten Kündigungsschutz haben wie Deutschland.

Umgehungsmöglichkeiten

Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang auch – was durchaus vorkommt – ein weiterer Umstand, der letztendlich dazu führen kann, dass der Zoll auch bei bestmöglicher Kontrolle niemals herausfinden wird, ob für die Arbeitszeiten in Deutschland tatsächlich der Mindestlohn ausbezahlt wurde: Auf den Lohnabrechnungen wird hier völlig korrekt für die Zeit der Fahrten in Deutschland der deutsche Mindestlohn ausgewiesen, und der Nettoauszahlungsbetrag berücksichtigt dies auch, was zu einer insgesamt korrekten Nettolohnauszahlung an den Lkw-Fahrer führt, zumindest zahlenmäßig gesehen. „Intern“ haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer allerdings oftmals vereinbart, dass „bestimmte Aspekte des Mindestlohns“ (Beispiel: 50 % des sich nach dem deutschen MiLoG zusätzlich gegenüber der vereinbarten landesüblichen Vergütung ergebenden Nettobetrags) vom Arbeitnehmer wieder zurückzuzahlen sind, und zur Verdeutlichung des Betrags erhält der Fahrer eine zweite (inoffizielle und „vertrauliche“) Lohnabrechnung. Die Umsetzung kann dann „pragmatisch“ durchaus so erfolgen, dass der Arbeitgeber eine weitere ec-Karte vom Konto des Arbeitnehmers erhält, mit welcher diese Beträge monatlich wieder „eingezogen“ werden. Zumindest in einer anderen Branche des Einsatzes osteuropäischer Beschäftigter wurde diese „Praxis“ bereits bei Rechtsstreiten verhalten angedeutet, wenn auch in Bezug auf die „Durchsetzung“ mehr oder weniger ausgeprägter Kosten für eher dürftig ausgestaltete Unterkünfte.

Fazit

Ob bei der derzeitigen Situation eine weitere Wettbewerbsverzerrung zwischen den in Deutschland den Firmensitz unterhaltenden Speditionen und denjenigen aus den sog. mindestlohnmäßigen „Billiglohnländern“ vermieden werden kann, ist eine eher fragliche Angelegenheit. Die Zahl der arbeitslosen deutschen Lkw-Fahrer ist erfreulicherweise erheblich zurückgegangen (um 21,6 % innerhalb des Zeitraums von Juni 2020 bis Juni 2021 nach einer Information des Bundeswirtschaftsministeriums), die sich mit der Einschätzung deckt, die bei arbeitsrechtlichen Bestandsstreitigkeiten mit Lkw-Fahrern bei den Arbeitsgerichten zu gewinnen sind (nur sehr selten ist hier die Betriebsbedingtheit der Kündigungsgrund, lediglich bei Firmenschließungen).

Die osteuropäischen Transportunternehmen haben vom weiterhin zunehmenden Verkehr in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 wesentlich mehr profitiert als die deutschen: Die Halbjahres-Mautstatistik des Bundesamts für Güterverkehr hat aufgezeigt, dass die gefahrenen Kilometer der polnischen Mautfahrzeuge um 14 % gestiegen sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, der rumänischen und litauischen um 12,4 % und der tschechischen um 9,5 %. Bei den deutschen Lkws ist lediglich eine Steigerung um 2,7 % eingetreten, was – insgesamt betrachtet – allerdings einen Rückgang von 59,8 % auf 57,7 % ausmacht.

Setzt sich die Entwicklung so fort, dann wird in absehbarer Zukunft der Anteil der nicht in Deutschland zugelassenen Lkws und Auflieger/Anhänger vermutlich unter 50 % fallen. Zwar wird von dieser Entwicklung der regionale Güterverkehr eher wenig betroffen sein,wie auch wohl die besonderen Transportarten, etwa Sondertransporte und Gefahrgutbereiche, weil hierauf die „Allrounder“ aus Osteuropa – schon fahrzeugtechnisch gesehen – eher nicht eingestellt sind. In allen anderen Bereichen ist jedoch mit einer weiteren Marktverschiebung zu rechnen.

Ein Wirtschaftsbetrieb, der in erheblichem Umfang auf Transportleistungen für die Anlieferung von Rohstoffen und den zu verarbeitenden Produkten einschließlich des Antransports der notwenigen Roh- und Energiematerialien angewiesen ist, anschließend dann auf den Abtransport der fertigen Produkte, wird sicherlich die Entwicklung begrüßen, dass weiterhin die osteuropäischen Spediteure gegenüber den deutschen eindeutig die „preisgünstigeren“ sind, und – um es plakativ auszudrücken – bei 40 Tonnen Butter und Joghurt aus Schleswig-Holstein, die nach München zu einem Zentrallager eines Discounters kommen sollen, wird es „nur“ relevant sein, dass sie pünktlich da sind und auf dem Transportweg die Kühlkette nicht abreißt, etwa wegen eines Defekts der Anlage. Bei etwas diffizileren Transportaufträgen – etwa bei chemischen Produkten – dürfte nach wie vor für das Spezialwissen der deutschen Spediteure und die (zumindest meist) vorhandene bessere/neuere technische Ausstattung der Fahrzeuge und einen Fahrer, der dem deutschen Arbeitsrecht unterfällt, zwar ein höherer Preis für die Transportleistung anfallen, dies aber auch mehr Kalkulationssicherheit bei der Zeitplanung bringen. Der Auftraggeber kann entscheiden, was als wichtiger erachtet wird.

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