Benachteiligung einer schwerbehinderten Bewerberin

1. Unterlässt es ein öffentlicher Arbeitgeber, die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung eines Schwerbehinderten zu informieren und ihn zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, lassen diese Indizien eine Benachteiligung aufgrund Schwerbehinderung vermuten.

2. Die Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung setzt nicht voraus, dass der Arbeitgeber positive Kenntnis von der Schwerbehinderungseigenschaft hat. Übersehen Mitarbeiter in Bewerbungsunterlagen einen Hinweis des Bewerbers auf eine Schwerbehinderung, muss sich der Arbeitgeber so behandeln lassen, als wisse er davon. Auf ein Verschulden kommt es nicht an.

3. Das AGG gilt nicht für Fälle, bei denen die Handlung, die den Schadensersatz auslöst, schon vor dem 18.8.2006 abgeschlossen war.

(Leitsätze der Bearbeiterin)

BAG, Urteil vom 16. September 2008 – 9 AZR 791/07

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Problempunkt

ie Klägerin hatte sich beim Staatsministerium für Kultur des Freistaats Sachsen um eine befristete Buchhaltungsposition beworben. In ihrem Bewerbungsschreiben wies sie auf ihre Schwerbehinderung hin. Die zuständigen Bearbeiter übersahen dies jedoch. Entsprechend informierten sie die Schwerbehindertenvertretung, dass keine Bewerbungen von Schwerbehinderten eingegangen seien. Sie luden die Klägerin auch nicht zu einem Bewerbungsgespräch ein, sondern erteilten ihr eine Absage.

Die Klägerin sah hierin eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung und machte Schadensersatz gegen den beklagten Freistaat geltend. Dieser war der Auffassung, eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung sei ausgeschlossen, da er (versehentlich) ja gerade keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft genommen habe. Zudem sei die Klägerin gar nicht geeignet. Außerdem habe sie die Bewerbung nicht ernst gemeint, da sie in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stand. Das Arbeitsgericht sprach der Klägerin anderthalb Bruttomonatsgehälter zu, das LAG eines. Hiergegen legte die Beklagte Revision ein.

Entscheidung

Auch das BAG sah in diesem Fall eine Benachteiligung und bestätigte den Anspruch auf Schadensersatz. Er richtet sich noch nach § 81 Abs. 2 SGB IX alte Fassung (a. F.), d. h. der Regelung vor Inkrafttreten des AGG. Das BAG stellte klar, dass das Gesetz nicht rückwirkend anzuwenden ist, wenn die Angelegenheit bereits vor dem Inkrafttreten (18.8.2006) abgeschlossen war. Entscheidend war hier das Datum der Ablehnungsentscheidung, die bereits im Jahr 2005 ergangen war.

Die Voraussetzungen des § 81 Abs. 2 SGB IX a. F. liegen vor. Der Arbeitgeber hat weder die Schwerbehindertenvertretung unterrichtet noch die Klägerin zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Hierzu ist er als öffentlicher Arbeitgeber gem. § 82 SGB IX bei allen Schwerbehinderten grundsätzlich verpflichtet. Ein solches Verhalten lässt eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung vermuten. Dabei betonte das BAG, dass es nicht darauf ankommt, ob der Arbeitgeber die Benachteiligung beabsichtigt oder nicht. Die Maßnahme muss nur objektiv geeignet sein, schwerbehinderten Bewerbern schlechtere oder keine Chancen einzuräumen.

Erst recht kommt es nicht auf ein Verschulden des Arbeitgebers an: Allein der objektive Verstoß löst die Entschädigungspflicht aus. Er muss sich dabei das Handeln oder Unterlassen der Mitarbeiter, die er für die Bearbeitung der Bewerbungen einsetzt, zurechnen lassen. Die Klägerin erhielt aber nicht die beantragte Höhe von mindestens drei Monatsgehältern. Das BAG berücksichtigte zu ihren Lasten insbesondere, dass der Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft aus Fahrlässigkeit übersehen hatte, die Klägerin auch ohne die Benachteiligung die Stelle nicht erhalten hätte und ihre Existenz durch die unbefristete Beschäftigung gesichert war.

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Konsequenzen

Die grundlegenden Äußerungen dieser Entscheidung werden auch im Geltungsbereich des AGG Gültigkeit behalten und sind damit insbesondere für Schadensersatzansprüche nach § 15 Abs. 2 AGG zu beachten.

Bei der Prüfung von Bewerbungsunterlagen ist deshalb künftig mehr denn je äußerste Vorsicht und Gründlichkeit geboten. Teilt ein Bewerber eine Schwerbehinderung mit oder weist er auf ein sonstiges Merkmal aus dem Katalog des AGG hin, können leicht Schadensersatzansprüche folgen, wenn der Arbeitgeber hierauf nicht reagiert. Dabei ist es unerheblich, ob er derartige Hinweise absichtlich übergeht oder lediglich aus Versehen. Hintergrund sind die europarechtlichen Vorgaben zur Beweislastverteilung: Der Arbeitnehmer müsste sonst dem Arbeitgeber nachweisen, dass er positive Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte, damit er Ansprüche wegen einer Benachteiligung i. S. d. AGG erfolgreich geltend machen kann. Tatsächlich reicht es jedoch, wenn der Bewerber nachweist, dass er dem Arbeitgeber die Information im Rahmen der Bewerbung zugänglich gemacht hat und sie damit in seinen Kenntnisbereich gelangt ist.

Praxistipp

Bei der Besetzung von Stellen sind im Hinblick auf Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte vor allem folgende Besonderheiten zu beachten: 

> Der Arbeitgeber muss die Arbeitnehmer, die er mit der Durchsicht der Bewerbungsunterlagen betraut, sorgsam auswählen und verpflichten, jede Bewerbung vollständig zu lesen.

> Nach dem Eingang der Bewerbungsunterlagen sollten die Sachbearbeiter die wesentlichen Eckpunkte für die Auswertung in Tabellen eintragen, insbesondere auch Hinweise auf eine Schwerbehinderung. So kann der Arbeitgeber verhindern, dass wichtige Informationen durchrutschen.

> Die Schwerbehindertenvertretung ist unverzüglich zu unterrichten, wenn eine Bewerbung den Hinweis auf eine Schwerbehinderung enthält.

> Es muss dann sorgsam geprüft werden, ob eine Beschäftigung möglich ist. Sicherheitshalber empfiehlt es sich, auch als nichtöffentlicher Arbeitgeber einen schwerbehinderten Bewerber einzuladen, um sich selbst ein Bild über die Eignung für die konkrete Stelle zu machen – zumindest wenn der Betreffende nicht offensichtlich ungeeignet ist.

> Gibt es keine Beschäftigungsmöglichkeit, gelten Besonderheiten für eine Absage: In Zeiten des AGG ist es eigentlich ratsam, Absagen möglichst ohne Angabe von Gründen zu verfassen, um nicht in die Gefahr zu kommen, Indizien für eine Benachteiligung aufgrund eines der Kriterien des AGG zu liefern. § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX verpflichtet den Arbeitgeber jedoch, bei schwerbehinderten Bewerbern Gründe für eine Absage zu nennen.

RAin Astrid Kermer, Schulte Riesenkampff Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main

Redaktion (allg.)

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