Krankheitsbedingte Kündigung chancenlos?

Eine krankheitsbedingte Kündigung eines nicht schwerbehinderten Menschen scheitert nicht an der fehlenden Durchführung einer so genannten Wiedereingliederungsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX.

(Leitsatz der Bearbeiter)

ArbG Halberstadt, Urteil vom 11. Mai 2005 - 3 Ca 114/05

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger war bei der Beklagten, einem öffentlichen Busunternehmen, seit 16 Jahren als Busfahrer beschäftigt. Er war seit dem 16.3.2004 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Hierbei erstreckte sich die Arbeitsunfähigkeit auf seine Tätigkeit als Busfahrer. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 12.1.2005 personenbedingt fristgerecht zum 31.8.2005. Der Betriebsrat hatte der Kündigung zugestimmt. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement i.S.d. § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX wurde von der Beklagten unstreitig nicht durchgeführt. Die vom Kläger erhobene Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgericht Halberstadt keinen Erfolg.

Die Entscheidung wirft Fragen zum Verständnis des § 84 Abs. 2 SGB IX auf. Hiernach ist bei Vorliegen längerer Krankheitszeiten unter Beteiligung verschiedener Arbeitnehmervertretungen ein sog. betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen. Mit diesem soll nach Möglichkeiten gesucht werden, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Die Vorschrift unterscheidet trotz des Standortes im Schwerbehindertenrecht nicht zwischen schwerbehinderten und nicht schwerbehinderten Menschen, aus dem Gesetzestext ergibt sich sogar vielmehr die Tendenz, dass alle Beschäftigten gemeint sind. Das Problem ist nun, ob wegen des Ultima-Ratio-Prinzips im Kündigungsrecht vor jeder krankheitsbedingten Kündigung dieses Eingliederungsmanagement durchzuführen ist. Anders gesagt: Sind Kündigungen ohne Beachtung des § 84 Abs. 2 SGB IX per se unwirksam? Auch kann es Auswirkungen auf den Umfang der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG geben.

Die Gesetzesbegründung schweigt hierzu, instanzgerichtliche Entscheidungen sind kaum vorhanden, in der Literatur finden sich gegensätzliche Stellungnahme (vgl. Brose, DB 2005, S. 390 ff.: Vorschrift gilt nur für schwerbehinderte Arbeitnehmer; Düwell, FA 2004, S. 200 ff: Vorschrift gilt für alle Arbeitsverhältnisse).

 

Entscheidung

Das Gericht hält eine Beachtung des § 84 Abs. 2 SGB IX im Falle von krankheitsbedingten Kündigungen von nicht schwerbehinderten Menschen für nicht erforderlich. Es versteht den Gesetzestext nicht dahin gehend, dass ein fehlender Wiedereingliederungsversuch zur Unwirksamkeit einer ausgesprochenen Kündigung führt. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Gesetzestext und den (wenigen) Literaturmeinungen erfolgt dabei jedoch nicht. Das Arbeitsgericht stellt allerdings quasi in einem obiter dictum fest, dass selbst, wenn ein solches Eingliederungsmanagement erforderlich ist, es im vorliegenden Falle ohne Bedeutung geblieben wäre, weil im Betrieb der Beklagten ein entsprechender leidensgerechter Arbeitsplatz fehlte, auf welchem der Kläger im Wege einer entsprechenden Eingliederungsmaßnahme in den Arbeitsprozess hätte zurückgeführt werden können. Das Gericht stellt damit ein zweites Kriterium auf: Ohne das Vorhandensein eines anderen, leidensgerechten Arbeitsplatzes muss ein Wiedereingliederungsmanagement i.S.v. § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht durchgeführt werden, da es ins Leere liefe.

 

Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)

Konsequenzen

Bekanntermaßen lassen sich drei Grundtypen bei der Kündigung wegen Krankheit unterscheiden:

- wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen,

- wegen einer Langzeiterkrankung und

- wegen krankheitsbedingter Leistungsminderung.

Gemein ist allen Formen, dass die Rechtsprechung eine Drei-Stufen-Prüfung durchführt, um die Rechtmäßigkeit der Kündigung festzustellen (u.a. BAG, Urt. v. 12.4.2002, NZA 2002, S. 1081) und zwar

- Vorliegen einer negativen Prognose,

- erhebliche Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen und

- Interessenabwägung.

Innerhalb dieses Prüfungsschemas sind die Voraussetzungen je nach Art der krankheitsbedingten Kündigung nochmals unterschiedlich ausgestaltet.

Neben diesen speziellen Prüfungspunkten muss sich die krankheitsbedingte - wie jede andere arbeitgeberseitige - Kündigung auch der Frage unterziehen, ob das Ultima-Ratio-Prinzip eingehalten wurde (Quecke, in: HWK Arbeitsrecht Kommentar, § 1 KSchG, Rdnr. 63). Es ist daher zu fragen, ob ein milderes Mittel zur Kündigung angezeigt gewesen wäre. Milderes Mittel wäre das betriebliche Eingliederungsmanagement. Das Arbeitsgericht Halberstadt verneint dies; eine Kündigung ist ohne dieses "Mediationsverfahren" möglich.

Das LAG Niedersachsen (Urt. v. 29.3.2005 - 1 Sa 1429/04, AuA 7/05, S. 433) hat dagegen zur alten Rechtslage etwas offen für die Zukunft formuliert, dass § 84 Abs. 2 SGB IX für alle Arbeitnehmer gilt und somit bei einem nicht schwerbehinderten Arbeitnehmer das betriebliche Eingliederungsmanagement unter Beteiligung des Betriebsrates (zwingend) durchzuführen ist. Die Rechtslage bleibt somit ungeklärt.

Es kommt ein weiteres hinzu. Nach der Rechtsprechung des BAG hat der Arbeitgeber im Rahmen der Anhörung nach § 102 BetrVG bei krankheitsbedingten Kündigungen Informationen über die Fehlzeiten, Zukunftsprognosen und wirtschaftliche Belastungen für den Betrieb anzugeben (Urt. v. 24.11.1983, NZA 1984, S. 93). Für die Anhörung insgesamt gilt der Grundsatz, dass die Information so umfassend sein muss, dass sich der Betriebsrat auf gesicherten Grundlagen ein Bild machen kann (Ricken, in: HWK, a.a.O., § 102 BetrVG Rdnrn. 25 ff. [34]). Nur eingeschränkt zu den Informationspflichten des Arbeitgebers gehört dagegen (bisher) die Mitteilung, ob eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit besteht. Zukünftig könnte dies bei personenbedingten Kündigungen anders sein. Möglicherweise muss die Betriebsratsanhörung erweitert werden, nämlich um Fakten darüber, ob, wann bzw. warum kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt worden ist. Andersherum: Ob ein leidensgerechter Arbeitsplatz im Betrieb/Unternehmen besteht oder geschaffen werden kann.

Letztlich haben sich die Maßstäbe geändert. Für § 84 Abs. 2 SGB IX reicht bereits ein Krankheitszeitraum von sechs Wochen im Jahr aus (gilt sowohl für Langzeiterkrankungen als auch für die Summe der Kurzerkrankungen). Die Rechtsprechung zu § 1 KSchG sieht deutlich längere Zeiträume vor. Allerdings stellen sich diese Fragen nur bei Langzeiterkrankungen und häufigen Kurzerkrankungen, krankheitsbedingte Leistungsminderungen behandelt § 84 Abs. 2 SGB IX nicht.

Praxistipp

Folgende Fragen stellen sich nunmehr zukünftig für alle, die Personalverantwortung tragen bzw. für deren Vertreter: Muss nunmehr vor jeder krankheitsbedingten Kündigung zwingend das betriebliche Eingliederungsmanagement durchgeführt werden (als milderes Mittel zur Kündigung)? Muss dieses scheitern, damit eine krankheitsbedingte Kündigung durchgeführt werden kann? Ist es entscheidend, wer das Scheitern zu vertreten hat? Darf das Verfahren des betrieblichen Eingliederungsmanagements unter bestimmten Bedingungen entfallen? Um an dieser Stelle sicherzugehen - mit einer Entscheidung des BAG ist erst in einiger Zeit zu rechnen, eher könnte sich etwas nach dem 18. September ändern - ist es dringend zu empfehlen, - genau abzugrenzen, welche Form der krankheitsbedingten Kündigung vorliegt. Nur eine Kündigung wegen krankheitsbedingter Leistungsminderung ist unabhängig von § 84 Abs. 2 SGB IX möglich; - im Übrigen vor der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG den Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 BetrVG dahin gehend zu informieren, dass aufgrund fehlender anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeit vom Verfahren des § 84 Abs. 2 SGB IX abgesehen wurde; - dem Betriebsrat mitzuteilen, dass die in § 84 Abs. 2 SGB IX angesprochenen staatlichen Mittel zum Erhalt oder zur Schaffung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes gerade nicht für nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer abrufbar sind; - beide Punkte zu § 84 Abs. 2 SGB IX auch in die Anhörung nach § 102 BetrVG mit aufzunehmen.

RA Torsten Schaumberg/Prof. Dr. iur. Jens M. Schubert, Uni. Lüneburg

Redaktion (allg.)

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