„Eine Viertagewoche ist dann pure Utopie.“

Wortwechsel

Dies ist der zweite Teil in der Rubrik Wortwechsel zum Thema „Arbeitszeiterfassung – Der Paukenschlag aus Erfurt“: Noch immer ist die Aufregung über den BAG-Beschluss vom 13.9.2022 (1ABR22/21, Kurzbesprechung in AuA 2/23, S.55) zur Arbeitszeiterfassung groß (vgl. hierzu auch ausführlich die kritischen Anmerkungen von Kroll im Titelthema in AuA 2/23, S.8ff.).

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Bild: svetazi/stock.adobe.com
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Kommen wir aber nun zur spannendsten aller Fragen: Bleibt Vertrauensarbeitszeit noch möglich?

Sutterer-Kipping: Vertrauensarbeitszeit betrifft die autonome Arbeitszeiteinteilung durch den Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin. Der Arbeitgeber vertraut darauf, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin ihrer bzw. seiner Arbeitsverpflichtung nachkommt, gleichwohl müssen

  • Höchstarbeitszeit,
  • Ruhepausen und
  • Ruhezeiten

eingehalten werden. Die Vereinbarung von Vertrauensarbeitszeit und Zeiterfassung schließen sich nicht aus. Wir haben in den letzten Jahren, insbesondere durch die Corona-Pandemie, eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes durch flexible Arbeitszeitmodelle (nach dem Motto „anytime – anywhere“) wie etwa mobiles Arbeiten oder Vertrauensarbeitszeit erlebt. Flexible Arbeitszeiten sind nicht nur eine Möglichkeit, um Arbeits- und Privatleben effizienter zu gestalten, sondern können auch zu Konflikten zwischen Beruf und Privatleben führen, etwa wenn Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen aufgrund ihrer Beschäftigung nicht mehr ausreichend Freizeit haben, private Beziehungen vernachlässigen oder die Kinderbetreuung nicht mehr bewältigen können. Schließlich können flexible Arbeitszeitgestaltungen zu Stress und Burn-out führen und so die Gesundheit nachhaltig beeinträchtigen. Ein wesentlicher Grund sind gerade unbezahlte Überstunden, die häufig mit zeit- und ortsflexiblem Arbeiten einhergehen.

Dabei sind insbesondere Frauen bzw. Mütter durch Überstunden sowie unplanbare und unzuverlässige Arbeitszeiten belastet, da sie nach wie vor den Löwenanteil bei der Kinderbetreuung übernehmen. Nach Angaben des Statischen Bundesamtes haben im Jahr 2021 rund 12% der insgesamt 37,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr gearbeitet, als im Arbeitsvertrag vereinbart war. Von der geleisteten Mehrarbeit waren immerhin knapp 22% unbezahlte Überstunden. Es besteht also Handlungsbedarf, und eine wichtige Maßnahme zum Schutz vor Doppelbelastung ist die Arbeitszeiterfassung.

Lelley: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch ein faires Austarieren der Work-Life-Balance sind äußerst wichtige Anliegen, vor allem in unserer modernen und immer mehr von Technik geprägten Arbeitswelt. Das möchte ich voll unterstützen. Ich bin mir nicht sicher, wie zwingend oder doch eng der Zusammenhang von Vertrauensarbeitszeit und mobilem Arbeiten tatsächlich ist. Eine schon lange bekannte Form der Vertrauensarbeitszeit war und ist doch die Gleitzeit, etwas abgeschwächt vielleicht, aber immerhin. Und das ist klassische Bürotätigkeit, mit Zeiterfassung und allem Drum und Dran.

Daraus folgt für mich ganz klar: Vertrauensarbeitszeit ist nach wie vor möglich und zulässig. Bei dem Thema „unbezahlte Überstunden“ frage ich mich manchmal, wie diese Zahlen zustande kommen. Beim Statistischen Bundesamt erfährt man dazu, die Angaben beruhten auf den „Angaben“ der Arbeitnehmer. Dabei haben wir in Deutschland doch zurzeit noch keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Um es aber ganz klar zu sagen, Vertrauensarbeitszeit ist eine wichtige Säule der modernen Arbeitswelt und auch ein Spiegel von Entfaltung der Persönlichkeit und der Führungskultur in den Unternehmen.

Ein Vorwurf, der nicht selten vorgebracht wird: Ist denn unser Arbeitszeitgesetz überhaupt noch zeitgemäß?

Sutterer-Kipping: Für den besseren Schutz der Beschäftigten in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts ist eine gesetzlich geregelte Arbeitszeiterfassung erforderlich. Das BMAS hat einen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz im ersten Quartal 2023 angekündigt. Unternehmen, die bislang noch kein Arbeitszeiterfassungssystem eingerichtet haben, werden kurzfristig vor einem zusätzlichen Aufwand stehen, der aber nicht als ein Mehr an Bürokratie, sondern in erster Linie als Kompensation eines Defizits ihrer Arbeitsorganisation zu beurteilen ist. Das Arbeitszeitgesetz ist ein Arbeitnehmerschutzgesetz, das nur so weit flexibilisiert werden darf, wie die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit gewährleistet ist.

Lelley: Nein. Arbeitsschutz und gesetzliche Rahmenbedingungen für Arbeitszeit sind zeitgemäß, das Arbeitszeitgesetz ist es nicht mehr. Da helfen aus meiner Sicht auch nicht mehr die oft zu hörenden Verweise auf die flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten, die das Arbeitszeitgesetz zulasse bzw. erlaube. Das sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

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Die Regel sind leider mangelnde Flexibilität und zunehmende Unvereinbarkeit mit der Lebens- und Arbeitswirklichkeit vieler Menschen. Das kommt auch in den Überschriften der Abschnitte und Normen im Gesetz sehr stark zum Ausdruck, da liest man nämlich von „abweichenden Regelungen“ und „Ausnahmen in besonderen Fällen“ oder „außergewöhnlichen Fällen“.

Im Rahmen der Diskussion um die Arbeitszeiterfassung fällt immer wieder der Begriff Viertagewoche. Wie stehen Sie zu diesem heiß diskutierten Vorschlag?

Sutterer-Kipping: Bei der Viertagewoche kommt es auf die Details an. Island ist bspw. einer der Vordenker bei der Viertagewoche. Zwischen 2015 und 2019 führte Island das weltweit größte Pilotprojekt einer Arbeitswoche mit 35 bis 36 Stunden von den ursprünglichen 40 Stunden durch, ohne dass eine entsprechende Lohnkürzung verlangt wurde. Ein anderes Beispiel ist Belgien, wo zwar die Viertagewoche letztes Jahr eingeführt wurde, aber ohne Verkürzung der Arbeitszeit. Anders gewendet: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen daher in vier Tagen die Arbeit von fünf Tagen erledigen. Die Idee der Viertagewoche ist erstens vor dem Hintergrund von Produktionssteigerung und Effizienzgewinnen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu sehen. Diese finden inzwischen auch zunehmend Niederschlag in der Wissensarbeit.

Zweitens haben sich gesellschaftliche Erwerbsmodelle grundlegend geändert. Wir streben eine gleichberechtigte Beteiligung an der Erwerbsarbeit zwischen Mann und Frau an (oder in anderen Familienmodellen). Diese lässt sich nicht mit der Vorstellung heutiger Vollzeiterwerbsmodelle vereinbaren. Das belgische Modell zeigt aber auch beispielhaft, dass die Ausgestaltung bei solchen Arbeitszeitmodellen entscheidend ist. Arbeitszeitautonomie darf nicht zu einer Flexibilisierung im Sinne einer Entgrenzung führen.

Lelley: Ich kann mir schon vorstellen, dass eine Viertagewoche das Potenzial hat, zur Work-Life-Balance beizutragen. Und das kann dann auch zu Produktivtätsgewinnen führen, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Zeit für die Erholung haben und dann besser ausgeruht und mit mehr Fokus im Job erscheinen.

Ich denke, es gibt da aber auch ein paar unbequeme, unpopuläre Aspekte, die wir uns ansehen müssen: Der Fachkräftemangel ist durchaus nicht am Ende, im Gegenteil, viel spricht dafür, er wird sich noch verschärfen. Die Lücken, die das reißen würde, lassen sich leider nicht anders als in die Begriffe Wohlstandsverlust und weitere Überforderung unserer Rentenversicherung übersetzen. Da lese ich, wir bräuchten eher eine 42-Stunden-Woche, um dem schwerwiegenden demografischen Wandel etwas entgegenzusetzen. Eine Viertagewoche ist dann pure Utopie. Sogar das aktuelle Arbeitszeitgesetz lässt übrigens mühelos eine 48-Stunden-Woche zu.

Amélie Sutterer-Kipping

Amélie Sutterer-Kipping
Wissenschaftliche Referentin für Arbeits- und Sozialrecht, HSI der Hans-Böckler-Stiftung
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· Artikel im Heft ·

„Eine Viertagewoche ist dann pure Utopie.“
Seite 26 bis 27
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