Meinung: Brücken braucht es, keine Grenzen

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 Bild: Hurca!@Adobe Stock
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Wir haben nicht verstanden, was da auf uns zurollt. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht erklären, dass wir im Personalbereich nahezu phlegmatisch die ewig gleichen Themen diskutieren: Work-Life-Balance, Viertagewoche oder Gen Z. Erwarten Sie daher hier keinen Debattenbeitrag zu Themen, die meiner Meinung nach zu Genüge durchgenudelt wurden – getreu der Devise: Es ist eigentlich schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem. Richten wir unser Augenmerk lieber auf das, was zu selten im Fokus steht: Lösungen.

Im vergangenen Jahr sprach ich vor gut 200 HR-Verantwortlichen in der Hofburg in Wien beispielhaft darüber, dass ein attraktiver Arbeitgeber nicht mehr nur Betriebs-Kitas stellen sollte, sondern auch „Betriebs-Tagespflegen“ – und erntete ungläubige Blicke. Ja, genau: Ein Arbeitgeber, der für die Eltern seiner Mitarbeitenden einen Pflegeservice anbieten kann, wird sich in den kommenden Jahren wohltuend von der Konkurrenz abheben. Denn sagen wir es so: Verglichen mit dem, was uns da unmittelbar bevorsteht, ist die Lage heute in Heimen, ambulanten Diensten und Krankenhäusern noch eine Situation der Fülle. So kurios das auch klingen mag angesichts des jetzt schon grassierenden Pflegenotstands.

Die Pflegekammer NRW hat erstmals per Register in Deutschland ermitteln können, wie es um die Pflege im bevölkerungsreichsten Bundesland bestellt ist und weiß dadurch u.a., wie alt Pflegefachpersonen sind, die aktuell im Berufsleben stehen. Die schlechte Nachricht: Jede dritte wird in den kommenden fünf bis zehn Jahren in Rente gehen. Das bedeutet, dass es für Mitarbeitende mitten im Berufsleben künftig immer aussichtsloser wird, für ihre Eltern eine Pflegemöglichkeit zu bekommen. Der emotionale Druck in Familien wird steigen. Und was wissen wir aus der Erfahrung der Pandemie? In der Regel werden es Frauen sein, die beruflich kürzer treten, weil sie sich neben den Kindern dann auch um die Eltern kümmern werden.

Können wir uns erlauben, diese Frauen in die Teilzeitarbeit ziehen zu lassen? Sollten wir nicht um jede Arbeitskraft kämpfen, unsere Arbeitsstrukturen entsprechend anpassen, neue Potenziale heben und Definitionen überdenken? Ja, in dem Zuge auch das Thema Migration als Chance bzw. Ausweg und nicht als Ballast sehen? Leider entwickelt sich derzeit – vor allem politisch geframed – ein seltsamer Zynismus, der es chic macht, gegen Minderheiten zu hetzen.

Profitieren Sie vom Expertenwissen renommierter Fachanwält:innen, die Sie über aktuelle Entscheidungen des Arbeitsrechts informieren. Es werden Konsequenzen für die Praxis benannt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

Wenn dann ein „Comedian“ in einem Podcast anlässlich der Paralympics in Paris geschmacklose Witze über Menschen mit Behinderungen macht, gibt es glücklicherweise einen veritablen Shitstorm. Das lässt hoffen, dass unsere Gesellschaft noch nicht komplett abgestumpft ist. Doch abseits der medialen Scheinwerfer sollten wir uns fragen: Erkennen wir Potenziale tatsächlich? Und haben wir den Mut, uns einem neuen Spektrum von Leistungen zu widmen? Hand aufs Herz: Wer hat wirklich nachhaltig Konzepte umgesetzt, Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt zu integrieren? Und zwar ohne, dass es ein „Förderprojekt“ im Sinne des Image-Aufpolierens ist?

Ein internationales Software-Unternehmen jedenfalls hat das enorme Potenzial von Menschen mit Autismus bei komplexen Programmierungen erkannt und dabei wie selbstverständlich die Arbeitsumgebung optimiert; bis hin zur eigenen Kantine für die Kolleginnen und Kollegen. Menschen mit Autismus haben eine andere Form der sozialen Interaktion, die in klassischen Kantinen schnell an ihre Grenzen stoßen würde.

Wir können es uns als Gesellschaft nicht erlauben, noch irgendjemanden zurückzulassen. Das bedeutet auch, dass wir uns entgegen dem gesellschaftlichen Trend unserer Zeit öffnen müssen. Brücken braucht es, keine Grenzen.

Marc Raschke

Marc Raschke
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Seite 7
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